#ZeroCovid im Gespräch mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Autorin und Kulturveranstalterin Elisa Aseva und Mathematiker David Schrittesser: zwei Protagonist*innen von ZeroCovid. Wie kann Solidarität in der Krise funktionieren? Darüber haben die beiden mit der Rosa-Luxembourg-Stiftung gesprochen.
“Schutz der Risikogruppen“ bedeutet Segregation.
Wer das fordert, spaltet die Gesellschaft. Keine*r bleibt zurück!
Seit Beginn der Pandemie wurden als Ziele von Lockdown und Schutzmaßnahmen angeführt, das Gesundheitssystem zu entlasten und die „Risikogruppen“ zu schützen. Die Strategie „flatten the curve“ hat dieses Ziel nicht erreicht. Spätestens seit der zweiten Welle grassiert das Virus in den Pflegeheimen, sterben dort Menschen zu Tausenden. Die Intensivstationen sind voll. Die gefürchtete Triage, das heißt das Sterbenlassen von Patientinnen, bei denen eine Therapie nicht aussichtsreich scheint, wird bereits praktiziert: Pflegeheimbewohnerinnen mit schwerem Covid19-Verlauf werden oft gar nicht mehr in den Krankenhäusern aufgenommen.
Die „Risikogruppe“ ist groß und Selbstisolation auf Dauer unmöglich
Wer eigentlich die „Risikogruppe“ ist und wer mit den viel beschworenen „Alten und Schwachen“ gemeint ist, bleibt seit Beginn der Corona-Krise unklar. In den Zahlen zu schweren Verläufen und Tod findet sich ein eindeutiger Überhang von Menschen über 80 wieder. Die Spannbreite der Vorerkrankungen unabhängig vom Alter ist jedoch breit: Da ist die Rede von Asthma, COPD, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Übergewicht, Diabetes uvm. Allesamt Beeinträchtigungen, die weit verbreitet sind. Je nach Rechnung macht die „Risikogruppe“ bis zu vierzig Prozent der Bevölkerung aus. Die Strategie, dass voranging die „Risikogruppe“ geschützt werden – vor allem durch Selbstisolation – und der Rest der Bevölkerung dem Virus ausgesetzt wird, ist verfehlt. Kein Mensch kann sich über die Dauer von mehreren Monaten von der Gesellschaft isolieren. Gerade Menschen, die Pflege und Assistenz brauchen, haben täglich Nahkontakt mit anderen Menschen. Menschen aus der „Risikogruppe“ sind darüberhinaus berufstätig, haben Kinder, Partnerinnen und Freundinnen – ein kompletter Selbstschutz vor dem Virus ist daher für die allermeisten unmöglich. Auch im Pflegeheim ist es bei hohen Inzidenzen illusorisch, das Virus draußen zu halten – und wenn es erst im Heim ist, breitet es sich schnell aus. Die Strategie ist außerdem zynisch: Sie verschiebt die Zuständigkeit für den Schutz der „Risikogruppe“ allein auf die Betroffenen und nimmt den Rest der Gesellschaft aus der Verantwortung. Darüber hinaus haben zehn bis zwanzig Prozent der Covid19-Kranken auch Monate nach ihrer Genesung noch mit Spätfolgen zu kämpfen; etwa die Hälfte der hospitalisierten Covid19-Patient*innen brauchen noch ein halbes Jahr danach noch durch Rehabilitations-Maßnahmen begleitet werden („Long Covid“).
Ein Teil der „Risikogruppe“ wurde bei allen Maßnahmen vergessen
Darüber hinaus stellen wir fest: Der Schutz der „Risikogruppen“ versagt, weil ein Großteil von ihnen schlicht vergessen wurde, nicht auf dem Schirm ist. Pflegebedürftige Menschen, die ihre Pflege privat über Angehörige organisieren, aber auch jüngere Menschen mit Behinderung unter 60, bekommen seit Monaten keine Masken und Schutzausrüstung für ihre Pflege- und Assistenzpersonen, von Pflegebonus-Zahlungen ganz zu schweigen. Schnelltests dürfen sie nicht anwenden, weil dies nur von medizinisch geschultem Fachpersonal durchgeführt werden darf. Stattdessen müssen sie seit Monaten in der Angst leben, dass die Pflegekräfte das Virus unbemerkt zu ihnen nach Hause tragen und sie sich anstecken. Das betrifft auch Menschen, die z.B. durch Muskeldystrophie oder hohen Querschnitt eine Beatmung brauchen und bereits durch eine Erkältung hochgefährdet sind. Für viele von Ihnen wäre eine Covid19-Erkrankung lebensgefährlich.
Keine priorisierte Impfung für Teile der „Risikogruppe“
Für eine priorisierte Impfung ist ein großer Teil der „Risikogruppe“ dennoch nicht vorgesehen: Alle drei Priorisierungsstufen der Coronavirus-Impfverordnung verzeichnen als Kriterien einen engen Katalog von Diagnosen oder einen Einrichtungsaufenthalt. Lebt man hingegen ambulant bzw. im eigenen Zuhause (wie der allergrößte Teil der „Risikogruppe“) oder ist die eigene Diagnose nicht gelistet, muss man warten, bis alle drei Priorisierungsstufen abgearbeitet sind. Der THW-Mitarbeiter, die Bundestagsabgeordnete und der Polizeihauptmeister kommen also noch vor der lungenkranken 30 jährigen mit 20 % Atemvolumen oder dem 40Jährigen mit Mukoviszidose dran. Die müssen sich bis dahin weiter strikt isolieren und hoffen, sich trotz der kommenden Virenmutationen nicht anzustecken. Von der Priorisierung ausgenommen sind auch Assistent*innen und pflegende Angehörige, beispielsweise von Kindern mit Behinderungen, die derzeit noch nicht selbst geimpft werden dürfen. Sehbehinderte Menschen, die den Abstand nicht immer einhalten können, sind auch nicht priorisiert.
Obwohl die STIKO Anfang des Jahres in einer Aktualisierung ihrer Impf-Empfehlung eine Öffnungsklausel hinzugefügt hat, die besagt, dass „die für die Impfung Verantwortlichen“ per Einzelfallentscheidung Patient*innen selbst priorisieren können sollen, sieht das Bundesgesundheitsministerium derzeit nicht vor, die Corona-Impfverordnung dahingehend abzuändern. Die Betroffenen haben daher keine rechtliche Grundlage und müssen einzeln Anträge bei den Gesundheitsbehörden der Länder stellen, bei denen derzeit niemand weiß, wer für die Einzelfallentscheidungen zuständig ist, oder vor Gericht ziehen. Ein Hohn im Vergleich zu anderen Staaten wie UK, die USA oder Österreich, wo alle Teile der „Risikogruppe“ bereits jetzt geimpft werden.
Triage-Entscheidungen nach ableistischen Kriterien
Weil sie in der Studien zu den Todeszahlen und schweren Verläufen nicht vorkommen (aufgrund ihrer selteneren Diagnosen), wurden Menschen mit einer Vielzahl von chronischen Krankheiten und Beeinträchtigungen in der aktuellen Impfverordnung nicht aufgeführt. An sie gedacht hat man allerdings bei den Handlungsempfehlungen zur Triage. Bereits im Frühjahr gab die Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) Handlungsempfehlungen für Intensivmedizinerinnen heraus für den Fall knapper Ressourcen während der Corona-Pandemie. Zwar gibt es einen Passus, in dem eine nicht-diskriminierende Zuteilung von Atemgeräten und Intensivmedizin angemahnt wird. Dennoch basieren die Handlungsempfehlungen auf ableistischen Vorstellungen von Lebensqualität und Behinderung. Entscheidungsgrundlage für die Zuteilung von Ressourcen ist die „Klinische Gebrechlichkeitsskala“ („Clinical Frailty Scale“), einer eigentlich aus der Gerontologie stammenden Klassifizierung je nach „Aussicht“ einer Behandlung. Die Nutzung von Hilfsmitteln wie Rollstühle und Rollatoren, mangelnde Beweglichkeit und Unterstützungsbedarf durch Pflegekräfte gelten nach dieser Skala als Hinweise darauf, dass eine intensivmedizinische Behandlung nicht angezeigt ist, weil sie als nicht erfolgversprechend angesehen wird. Dies schließt eine Vielzahl behinderter Menschen aus, die nach einer Covid19 Erkrankung auch mit Hilfsmitteln, Assistenz und Pflege ein gutes und selbstbestimmtes Leben weiterführen können. Die Einbeziehung von Verwandten und Freundinnen in eine individuelle Triage-Entscheidung ist in den Handlungsempfehlungen der DIVI nicht vorgesehen – allein medizinisches Fachpersonal soll die Entscheidung über Behandlung bzw. Behandlungsabbruch nach der klinischen Gebrechlichkeitsskala fällen. Da sich die Triage-Regelungen auf alle Intensivpatientinnen beziehen und nicht nur auf Covid19-Patientinnen, steht die Triage derzeit auch für alle Menschen mit intensivmedizinischen Notfällen als potentielle Gefahr im Raum. Behinderte, alte und chronisch kranke Menschen sind hier besonders gefährdet, nicht nur durch einen schweren Covid19-Verlauf, sondern auch durch diskriminierende Annahmen über ein Leben mit Beeinträchtigungen ihr Leben zu verlieren.
Wir fordern:
wirksame Maßnahmen zur drastischen Reduzierung der Fallzahlen, um Triage-Entscheidungen von vornherein abzuwenden
eine Debatte über die Kriterien der Triage-Entscheidungen im Bundestag und eine klare gesetzliche Grundlage
eine sofortige klare Regelung und rechtliche Grundlage einer zeitnahe Impfmöglichkeit der „Risikogruppe“ unter 60
die Berücksichtigung von nahen Kontaktpersonen, Assistent*innen von „Risikogruppen“, unabhängig vom Alter der beeinträchtigten Person
Zugang zu Masken, Schnelltests und Schutzkleidung für selbstorganisierte und familiäre ambulante Pflege
About:
Über die Verfasser*innen
Quellen:
ZDF – Spahn: 30 bis 40 Prozent sind in Risikogruppe
Ability Watch: Corona-Status 2021 – Wie die Regierung hoch vulnerable Gruppen opfert
Statista – Risikogruppen sind überall
Quarks – So häufig sind Langzeitfolgen nach einer Corona-Infektion
Divi (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) – Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer
Ressourcen im Kontext der COVID-19-Pandemie
PRIMA – Gebrechlichkeitsskala
Ability Watch – Mensch ist Mensch
Bundesgesundheitsministerium – Verordnung zum Anspruch auf Schutzimpfung gegen das Coronavirus SARS-CoV-2
(Coronavirus-Impfverordnung – CoronaImpfV)
Robert Koch Institut – Epidemiologisches Bulletin