Ein „bisschen Pandemie“ gibt es nicht

Naturwissenschaftliche Erkenntnisse rechtfertigen eine Zero-Covid-Strategie

Von David Schrittesser

Jeder hält sich für einen Experten” – so klagt jetzt oft, wer das Gerede von Corona-Leugnenden nicht mehr aushält. Dabei zeigt ein Blick, dass die Fronten nicht zwischen den klugen Experten hier und den unvernünftigen Massen dort verlaufen. Leider gibt es – wie beim Klimawandel – auch bei der Covid-Pandemie eine Minderheit von Experten, die haarsträubenden Blödsinn verbreiten. Im Falle der Klimaforschung stehen sie oft auf den Gehaltslisten von Ölkonzernen. “Es gibt nicht die eine wissenschaftliche Meinung”, sagt der Virologe Hendrik Streeck, der immerhin finanziell von der Bildzeitung unterstützt wurde. Mit dieser Aussage liegt er zumindest nicht ganz falsch – Wirtschaftslobbyisten, Medien und Politik, sie finden immer irgendwo eine Studie oder einen der wenigen Wissenschaftler wie Streeck, den sie zur Rechtfertigung ihres Handelns zitieren können.

Auch eine weniger kleine Anzahl von Wissenschaftlern und Institutionen beteiligt sich daran, die Illusion von einer rein technologischen Lösung der Pandemie aufrecht zu erhalten.

Wenn man sich aber umfassend und kritisch mit wissenschaftlichen Ergebnissen befasst, kann man durchaus folgern, wie eine Strategie aussehen muss, die sich nicht vor allem das Weiterlaufen der Wirtschaft zum Ziel setzt.

Eine Strategie, die den Bedürfnissen der Mehrheit, und ganz besonders denen der Schwächeren in unserer Gesellschaft gerecht wird, muss jede weitere Ansteckung zu verhindern suchen. Dass das überhaupt möglich ist, hat weniger die wissenschaftliche Forschung als die Praxis in einigen Ländern gezeigt. Dass man Pandemien aufhalten kann, ist dabei nichts grundsätzlich Neues – aber bei einem schon so weit verbreiteten Virus ist es – zumindest meines Wissens nach – zuvor noch nie so schnell in so vielen Ländern und Regionen gelungen.

Jedes andere Handeln führt dazu, dass jeder Mensch entweder durch Impfung oder durch Infektion Abwehrkräfte gegen Covid bilden oder sterben wird. Bei Immunisierung durch Infektion ist aber nicht sicher, wie lange sie überhaupt anhält; und jegliche Immunisierung könnte bald durch Mutation wieder hinfällig werden. Impfprogramme laufen schleppend. Zudem bleibt der Weg über die Impfung vielen bis auf Weiteres versperrt, etwa weil sie das Pech haben, im globalen Süden zu leben. Die Pandemie wird die globale Ungerechtigkeit noch einmal drastisch verschärfen (und in Zukunft als Rechtfertigung dienen, Mobilität aus dem globalen Süden in den Norden zu verunmöglichen).

Wer also Glück hat, den schützt eine Impfung. Für den Rest bedeutet es eine Strategie der Durchseuchung. Die beruhigend klingende Voraussage, dass Covid früher oder später wie eine Grippe zirkulieren wird, blendet bequem aus, wie ungeheuer viel Leid das bedeutet, und was auf dem Weg dorthin noch zu ertragen sein wird. Nur eine naturwissenschaftliche Betrachtung kann uns eine Idee davon geben, was uns hier erwarten kann.

Gleichzeitig hilft uns naturwissenschaftliches Denken zu begreifen, dass es keine Abwägung im folgenden Sinn gibt: “ein bisschen” Pandemie zu tolerieren und im Gegenzug die sogenannte “bürgerliche Freiheit” zu erhalten. Die Naturgesetze der Virusausbreitung lassen so ein Gleichgewicht nur zu, wenn es über sehr lange Zeiträume immer wieder zu strengen Einschränkungen kommt – die bekannten Jojo-Lockdowns. Ohne diese würden unzählige gleichzeitige Erkrankungen schnell nicht nur das Gesundheitssystem, sondern jede öffentliche Ordnung zusammenbrechen lassen. Die vermeintliche Notwendigkeit “nur ein bisschen Pandemie” zuzulassen (so unmöglich wie “nur ein bisschen tot” zu sein) wird in Wahrheit nicht gepredigt, um unsere Freiheit zu erhalten, sondern damit wir ohne Unterbrechung weiter arbeiten. Erkauft wird das mit vielen vermeidbaren Toten, langfristigen gesundheitlichen Schäden und endlosen Einschränkungen im Privatleben.
Leider genügt es nicht, den “Experten” zu vertrauen, um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen. Die wissenschaftlichen Institutionen haben in dieser Pandemie wenig dazu beigetragen, die Zusammenhänge deutlich zu machen. Sie haben zum Beispiel völlig dabei versagt, die einfache empirische Frage zu klären, wie viele Ansteckungen sich am Arbeitsplatz oder auf dem Weg dorthin vollziehen.

David Schrittesser ist Mathematiker aus Wien. Er arbeitet an der Universität Toronto, Kanada

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