Autor:innen: Wilhelm Schulz & Krissie
Kurzer Prolog: In unserer Initiative haben wir in den vergangenen Wochen an verschiedenen Stellen Debatten über die Frage der Ausgangssperren geführt. Bei den Diskussionen haben wir keine einheitliche Position den Ausgangssperren gegenüber entwickeln können. Mit diesem Beitrag möchten wir Elemente des Für und Wider unserer Auseinandersetzung skizzieren.
Die aktuelle Debatte über die Ausgangssperre hat Symbolcharakter, ja. Aber was heißt das? Welchen Charakter können symbolische Aktionen haben?
Auch Vertreter:innen des Anti-Ausgangssperrenflügels schließen diese Maßnahme nicht kategorisch aus. Doch was bringt die Ausgangssperre?
Einen eher moderaten Einfluss weist z.B. die nicht peer-reviewte Studie ‘Understanding the effectiveness of government interventions in Europe’s second wave of COVID-19’ von Sharma et. al (2021) nächtlichen Ausgangssperren zu. Ihr Beitrag zur Reduktion des R-Werts wird auf rund 13 Prozent geschätzt. „Es ist allerdings anzunehmen, dass die Bevölkerung mittelfristig auf frühere Besuchszeiten ausweicht, insofern ist dies ein Werkzeug, welches relativ schnell stumpf werden dürfte.“, schreiben die Autor*innen im sogenannten Modus-Covid Bericht. [1]
Die Hauptinfektionswege nach derzeitigem Erkenntnisstand sind sowohl Aerosole und Tröpfchen, in situationsabhängig unterschiedlichem Ausmaß. Dementsprechend ist zu erwarten, und da sind sich auch so gut wie alle Wissenschaftler:innen einig, dass im Freien bei ausreichend Abstand und ohne sich anzubrüllen etc. die Ansteckungswahrscheinlichkeit verschwindend klein ist. Das stimmt auch mit empirischer Datenlage gut überein, auch wenn diese natürlich lückenhaft ist. Bei großer Menschendichte sagen wiederum fast alle wissenschaftlich informierten Quellen: Außenraum wie Innenraum behandeln! Tröpfchen können dabei eine Rolle spielen. Wie sehr Aerosole auch im Freien zu Ansteckungen führen können, weiß niemand eindeutig. Es gibt dokumentierte Ansteckungen im Stadion. Viele Außen-Aktivitäten sind unmöglich ohne begleitende Innen-Aufenthalte, z. B. bei der Anfahrt oder dem Toilettenbesuch. Das heißt insgesamt, dass Ansteckung im Freien auf jeden Fall bei richtigem Verhalten – wie nicht zu viele Menschen auf engem Raum, kein Schreien, keine Ansteckung bei der Hinfahrt etc. – ein geringeres Problem ist. Ausgangssperren können zudem Menschen zu Treffen im Innenraum animieren, während andere anmerken, dass sie eben auch für die Innenräume gelten. Spätestens hier sollte uns aber auch klar sein, dass wir uns an einem Law-and-Order-Diskurs beteiligen müssten, darüber, was kontrollierbar und polizeilich durchsetzbar ist und was nicht – ein Diskurs, der uns von der Idee einer solidarischen Pause eher wegführt.
Klarerweise ist jede Maßnahme zum Infektionsschutz notwendig mit Einschränkungen verbunden. Jedoch stellt sich hier, wie an so vielen Stellen, der ZeroCovid-Initiative die Frage der Kontrolle über solche autoritären Maßnahmen. Wer beschließt und kontrolliert die Umsetzung der Ausgangssperren? Außerdem stehen sie sinnbildlich für die halbgaren Maßnahmen dieses Staates, der einen Kompromiss zwischen dem Offenhalten weiter Teile des Wirtschaftslebens und dem Herunterfahren gesellschaftlicher Bereiche im Interesse des Infektionsschutzes versucht. Dieses Sinnbild kann auch mit objektiven Klasseninteressen verglichen werden. Das Interesse von Unternehmer:innen und somit des Kapitals ist es, sich selbst als Ausgangs- und Endpunkt in der Produktion zu betrachten, kurzum den Zweck seiner eigenen Selbstverwertung zu bedienen. Währenddessen lautet das Interesse der arbeitenden Bevölkerung mittels des Verkaufs ihrer Arbeitskraft zu überleben. Eine Anwendung von Maßnahmen lediglich außerhalb der Arbeitswelt ist somit zweckdienlich für das Gesamtinteresse des Kapitals, während es einen Kompromiss auf dem Rücken der Beschäftigten versucht, der zwischen dem unmittelbaren Verkauf der Arbeitskraft und dem langfristigen (gesundheitlichen) Erhalt des Arbeitsvermögens gezogen wird.
Als ZeroCovid kämpfen wir für ein Ende dieses scheinheiligen Kompromisses. Wir kämpfen für eine radikale Eindämmung der Infektionen bei gleichzeitiger voller Lohnfortzahlung, umfassenden sozialen Rettungspaketen für kleine Unternehmende und alle anderen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen jenseits der Lohnarbeit. Die Maßnahme der Ausgangssperre ist stark umstritten, aus vielerlei Gründen. Sie folgt dem Prinzip der Kontaktreduktion, das allerdings in einem Kontext bereits radikal beschnittener Freizeitgestaltungsmöglichkeiten stattfindet und zu Zeiten, in denen ein guter Teil, der vor 2020 üblichen Mobilität entfällt. Für die Unternehmen gibt es dagegen nur eine Testangebotspflicht, diese Zwänge sind deutlich ungleich.
Eine unkritische Annahme der Ausgangssperre würde für ein Weiter-So stehen, eine Politik, die tagtäglich hunderte Corona-Tote in Kauf nimmt. Unsere Forderung nach einer solidarischen Pause dürfte ihren Charakter einer umfassenden Intervention dahingehend verlieren, als dass sie sich mit der Hoffnung darauf begnügt als Ultima Ratio nicht gänzlich ausgeschlossen zu werden und gleichzeitig der Priorisierung zustimmt, zuerst mit einem fortgesetzten „Mehr-Lockdown“ die Arbeitnehmer:innen und Prekarisierten zu belasten.
Wir aber fordern einen radikalen Kurswechsel, der die Belastung der gesundheitlichen Krise einer anderen Klasse, der der Besitzenden, überträgt. Wir können daher nicht bedingungslos Jasagen, sonst würden wir uns vor den Beschäftigten und Prekarisierten lächerlich machen in der Narrenpose, mal eben Staat und Kapital zur Vernunft bekehren zu wollen.
Schließlich steht die Ausgangssperre aktuell für eine Fortsetzung einer Politik, die nicht einer drastischen Senkung des Infektionsgeschehens dient, sondern einer leichten Absenkung der 7-Tage-Inzidenz, um wieder Schulen und Geschäfte öffnen zu können. Eine Unterstützung der Ausgangsbeschränkungen im Hier und Jetzt, kann demnach eine Schwächung gegenüber Bündnispartner:innen und der Anerkennung ZeroCovids in Zukunft bedeuten. Wichtiger wäre es, dass die Politik kontinuierlich daran erinnert wird, lieber die Superspreader:innen in den Betrieben zu bekämpfen.
Natürlich kann es ebenso wenig darum gehen, grundsätzlich Maßnahmen als autoritär abzulehnen, sondern die Frage der Ausgangssperren als Honigtopf zu verstehen, die von den Betrieben ablenken soll und weitere Symbolpolitik für das öffentliche und private Leben bedeutet.
In Wirklichkeit trifft die Ausgangssperre einmal mehr sozial selektiv – und das ist keine zufällige, sondern eine in der Maßnahme schon angelegte Folge. Diese Menschen sind nicht symbolisch betroffen, sondern werden mit realen Problemen konfrontiert. So sind verschärfte Repression gegenüber Jugendlichen, Migrant:innen, Wohnungslosen und weiteren sozial unterdrückten Gruppen zu erwarten, denn es ist dieselbe Polizei, die gegen eine angebliche ‘Clankriminalität’ vorgeht oder Frauen nach der Vergewaltigung fragt, was diese getragen haben.
Während also für sich betrachtet, Ausgangssperren sowohl virologisch umstritten sind als auch sozialpolitisch unterste Schublade, gibt es aber trotz alledem noch eine strategisch-polittheoretische Dimension, die es zu bedenken gilt. Dabei geht es weniger um die Verwechslungsgefahr mit tatsächlichen Antisemit:innen aus dem “Querdenker”-Dunstkreis. Gefährlicher sind diejenigen, deren Antistaatshaltung dazu führt, zwar gegen Ausgangssperren zu agitieren, aber ZeroCovid abzulehnen, da Forderungen zu stellen der persönlichen Antistaatshaltung zuwiderlaufe.
Klar muss das kein Problem darstellen, dennoch hat es sogar mehr Potenzial, ZeroCovid zu verhindern, als die Massen der “Querdenker:innen”, da hier die Rhetorik von ZeroCovid auf eine Weise übernommen werden kann, die sie entkernt: die Forderungen geraten in den Hintergrund, ihre dann rhetorisch sarkastisch gewendeten kritischen Sätze werden auf einmal nur zum narzisstischen Schmuck einer Antistaatshaltung. Statt konkrete Problemstellungen kollektiv anzugehen, muss also erst das Staats- und Kapitalismusproblem vollständig beseitigt sein. Insofern handelt es sich – potenziell – um einen doppelten Honigtopf, der nicht nur erfolgreich von den Betrieben ablenken kann, sondern zugleich uns als Opposition von unseren Forderungen.
Es geht also – positiv formuliert – gerade darum, den Spagat hinzubekommen, ebenso wenig die Forderungen aus den Augen zu verlieren, noch sich vertrauensselig auf einen Kuschelkurs zu verlassen, weder die Pandemie dann doch zu relativieren, noch alles im Namen der Pandemiebekämpfung ungeprüft zu akzeptieren.
[1] Anmerkung: In der Studie steht noch einiges mehr. Unter anderem, dass die 13% nicht gesichert auf die Ausgangssperren zurückzuführen sind.