Pandemie der sozialen Ungleichheit

Covid-19 mehrt Armut und Reichtum

Von Christoph Butterwegge

Der mittelalterlichen Pest bescheinigt man, eine Pandemie gewesen zu sein, nach der die soziale Ungleichheit in Europa geringer war als zuvor. Seinerzeit sanken die Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise wegen fehlender Bewohner/innen, wohingegen die Löhne aufgrund fehlender Arbeitskräfte und einer gestärkten Verhandlungsposition der übriggebliebenen stiegen.

Während der Covid-19-Pandemie hat sich die soziale Ungleichheit hingegen auf der ganzen Welt zum Teil drastisch verschärft. Dafür ist allerdings nicht das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2 verantwortlich, vor dem hinsichtlich seiner Infektiosität vielmehr alle Menschen gleich sind. Nur weil sich deren Gesundheitszustand, Arbeits- und Lebensbedingungen sowie Einkommens-, Vermögens- und Wohnverhältnisse zum Teil stark voneinander unterscheiden, sind auch die Infektionsrisiken sehr ungleich auf die einzelnen Bevölkerungsgruppen verteilt.

Ungerecht ist also nicht das Virus selbst, sondern die Klassengesellschaft, auf deren Mitglieder es trifft. Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse, Machtstrukturen und Verteilungsmechanismen bewirken, dass Covid-19 den Trend zur sozioökonomischen Polarisierung verstärkt. Die schwere wirtschaftliche Verwerfungen erzeugende Pandemie macht das Kardinalproblem der Bundesrepublik, die wachsende Ungleichheit, nicht bloß wie unter einem Brennglas sichtbar. Sie wirkt auch als Katalysator, wodurch sich diese weiter verschärft.

Von der Pandemie am stärksten betroffen sind die Immun- und die Finanzschwächsten: Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Asthma, Adipositas (Fettleibigkeit) oder Diabetes, katastrophale Arbeitsbedingungen (z.B. in der Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion und einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf für Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Menschen in Gemeinschaftsunterkünften wie Strafgefangene, Geflüchtete, (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeitskräfte und Saisonarbeiter/innen, Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdienende, Kleinstrentner/innen und Transferleistungsbezieher/innen.

Die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und anderen Einrichtungen hatten erhebliche wirtschaftliche Einbußen für die dort Tätigen, aber auch Konkurse und Entlassungen zur Folge. Die mit Verzögerung einsetzende, als größte Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg geltende Wirtschaftskrise warf nicht bloß ein Schlaglicht auf die hierzulande bestehende Ungleichheit. Sie erhöhte sie in Teilbereichen noch.

Unter dem Druck der Coronakrise, die zu Einkommensverlusten durch Kurzarbeit, Geschäftsaufgaben und Arbeitslosigkeit geführt hat, kauften mehr Familien bei Lebensmittel-Discountern ein, wodurch die Besitzer solcher Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi Süd, die ohnehin zu den vermögendsten Deutschen gehören, noch reicher geworden sind. Dieter Schwarz, Eigentümer von Lidl und Kaufland, hat sein Privatvermögen, das auf 41,8 Milliarden Euro geschätzt wird, in den vergangenen zwei Jahren laut dem US-Wirtschaftsmagazin Forbes um 14,2 Milliarden Dollar gesteigert. Viele kleine Einzelhändler/innen haben wegen der Schließung ihrer Läden und ausbleibender Kunden hingegen ihre Existenzgrundlage verloren.

Zudem verschärfte sich die Geschlechterungleichheit, denn Frauen waren häufiger in Krisenbranchen wie dem Gastgewerbe tätig. Außerdem mussten vor allem Mütter im Erwerbsleben zurückstecken, weil sich Beruf und Familie im Homeoffice bei geschlossenen Schulen und Kinderbetreuungseinrichtungen noch weniger miteinander vereinbaren ließen als sonst. Während sich das Erwerbseinkommen von Frauen verringerte, vermehrte sich die von ihnen erbrachte Sorgearbeit, weshalb man von ihrer „doppelten Benachteiligung“ (Bettina Kohlrausch/Aline Zucco) sprechen kann.

Zwar brachen die Aktienkurse an sämtlichen Börsen der Welt vorübergehend ein, dramatische Verluste erlitten aber vor allem Kleinaktionäre, die zu Panikreaktionen und überhasteten Verkäufen neigen. Hedgefonds und Finanzkonglomerate wie BlackRock wetteten hingegen sogar mittels Leerverkäufen erfolgreich auf fallende Aktienkurse und verdienten an den Einbußen der Kleinanleger/innen. Großaktionäre dürften die Gunst der Stunde außerdem für Ergänzungskäufe zu relativ niedrigen Kursen genutzt und davon profitiert haben, dass der Kurstrend in Erwartung eines staatlichen Konjunkturprogramms bald wieder nach oben zeigte. Während der dritten Infektionswelle erreichte der Deutsche Aktienindex (Dax) einen historischen Rekordstand.

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise hohe Geldbeträge für direkte Finanzhilfen, Bürgschaften und Kredite bereitgestellt, die hauptsächlich den Unternehmen – auch und gerade Konzernen wie der Lufthansa, dem Reiseanbieter TUI oder Galeria Karstadt Kaufhof – zugutekamen. Sozial benachteiligte Personengruppen wie Obdachlose, Hartz-IV-Bezieher/innen und Kleinstrentner/innen wurden hingegen – wenn überhaupt – nur am Rande berücksichtigt.

BMW ließ sich für über 20.000 Beschäftigte in Kurzarbeit fast die gesamten Lohnkosten (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) erstatten, zahlte aber im Mai 2020 nicht weniger als 1,64 Milliarden Euro an Dividenden für das Vorjahr aus. Davon erhielten die beiden Großaktionäre Susanne Klatten und Stefan Quandt, denen fast die Hälfte des Münchner Automobilkonzerns gehört, allein 769 Millionen Euro.

Weniger großzügig verhielt sich der Staat gegenüber Studierenden, die ihren Nebenjob (z.B. in der Gastronomie) verloren. Da sie weder Kurzarbeiter- noch Arbeitslosengeld beantragen konnten, kam es zu Studienabbrüchen. Selbst die „Sozialschutz-Pakete“ der CDU/CSU/SPD-Koalition wiesen eine verteilungspolitische Schieflage auf. Für die Hartz-IV-Bezieher/innen gab es selbst dann keinen Ernährungszuschlag, wenn ihre Kinder während der KiTa- und Schulschließungen zuhause verpflegt werden mussten, anstatt wie sonst kostenfrei die Gemeinschaftsverpflegung in der öffentlichen Bildungs- bzw. Betreuungseinrichtung zu nutzen.

Erst im September bzw. Oktober 2020 bekamen Eltern 300 Euro pro Kind, die den Familien im Hartz-IV-Bezug etwas halfen, zumal sie nicht auf das Arbeitslosengeld II bzw. das Sozialgeld angerechnet wurden. Ausländische Eltern, die als Geduldete keinen Anspruch auf Kindergeld hatten, gingen jedoch ebenso leer aus wie Flüchtlingsfamilien, die sich noch im Asylverfahren befanden. Dasselbe gilt für die Neuauflage des Kinderbonus in Höhe von 150 Euro, der ebenso wie ein gleich hoher Betrag für Grundsicherungsbezieher/innen erst im Mai ausgezahlt wird und nur symbolischen Wert hat.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Zuletzt ist sein Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ im PapyRossa Verlag erschienen.

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