Die Pandemie ist nicht vorbei – wir sind mitten in der 4. Welle

Derzeit versuchen die Regierungen in Deutschland, Österreich, der Schweiz und vielen weiteren reichen, westlichen Ländern sich mit dem Impfangebot für ein Großteil der Bevölkerung aus der Verantwortung für die Pandemiebekämpfung zu ziehen. Für eine Mehrheit der Bevölkerung gibt es ein Impfangebot – jede und jeder trägt für sich allein die Verantwortung, krank zu werden oder nicht. Die Hoffnung, durch Impfungen Herdenimmunität zu erreichen, hat sich angesichts von Impfskepsis und besonders der im Vergleich mit dem Wildtyp/D614G doppelt so ansteckenden Delta-Variante zerschlagen. Die Geschwindigkeit der Ansteckungen mit der Delta-Variante übertrifft nun die Geschwindigkeit, mit der zusätzliche Impfungen Ansteckungen vermeiden können. Der Impfschutz lässt bei vielen Menschen schon wieder nach. Es ist eingetreten, wovor viele von Anfang an gewarnt haben: Die Impfung hilft, schwere Verläufe zu vermeiden und leistet einen Beitrag dazu, Ansteckungsraten zu senken, ersetzt jedoch keine umfassende Strategie zur Bekämpfung der Pandemie. Im Gegenteil gefährdet die weitere Ausbreitung des Virus den Impferfolg durch neue Mutationen. Doch obwohl das Konzept bereits, wie abzusehen war, gescheitert ist, halten die Regierungen am Laufenlassen der Seuche fest. Was sind die Konsequenzen? Welche Strategien halten wir dagegen? Und welche Rolle spielen die Impfungen eigentlich?

Covid-19 als weiter bestehende Gefahr – warum die Inzidenzen zentral bleiben

Die derzeitige Strategie der Regierungen, die Ausbreitung des Virus in Kauf zu nehmen, läuft auf eine Durchseuchung aller Ungeimpften hinaus. Dies sind nicht nur die Impfunwilligen, sondern auch alle, die sich nicht haben impfen können, seien es Immungeschwächte, seien es diejenigen, die aufgrund prekärer Lebensverhältnisse sich nicht trauen ein paar Tage freizunehmen, seien es Menschen ohne Papiere, vor allem aber gilt dies auch für alle Unter-12-Jährigen. Das bisherige Impftempo in Deutschland hätte auch gar nicht ausgereicht, bereits allen den Impfschutz zu geben. Global gesehen ist die Lage noch viel dramatischer: Auch wenn bei optimaler Priorisierung bereits längst alle Über-50-Jährigen und Gesundheitsarbeiter*innen ein Impfangebot hätten erhalten können, konnten in dutzenden stark von Covid-19 betroffenen Ländern noch viele Millionen ältere Menschen nicht geimpft werden, einfach weil die gelieferten Dosen nicht genügen.

Derzeit drohen mit der Schulöffnung die Schulen zum Schwerpunkt für die Ausbreitung des Virus zu werden. Auch Kinder leiden an Long Covid und die jetzigen Erfahrungen an den USA zeigen, dass mit der Delta-Variante auch Kinder häufiger schwere Verläufe durchlebe. Auch Geimpfte können einen Impfdurchbruch erleben, eine so gute Immunantwort, dass sie auch längerfristig eine Ansteckung zuverlässig verhindert, ist allenfalls bei einer Minderheit der Menschen zu erwarten. Ein exponentieller Anstieg der Fälle bedeutet auch in der geimpften Bevölkerung einen exponentiellen Anstieg der Krankenhauseinweisungen. Wird der exponentielle Anstieg der Hospitalisierungen in der Gesamtbevölkerung nicht gestoppt, heißt das, dass durch die Impfungen auch die Überlastung der Intensivstationen und des Gesundheitssystems lediglich hinausgezögert ist. Gefährdet sind vor allem auch diejenigen, insbesondere die Älteren, bei denen der Impfschutz bereits wieder nachlässt und die Immunantwort von Anfang an nicht perfekt war. Wenn eine geimpfte Person dennoch erkrankt, ist ihr Risiko für einen schweren Verlauf zwar immer noch geringer als bei Ungeimpften, doch das Risiko an Long Covid zu erkranken liegt mit ca. 20% in derselben Größenordnung wie bei Ungeimpften.

Welche Strategie und welche Mittel braucht es jetzt?

Ganz allgemein gilt: Niedrige Inzidenzen sind der beste Schutz für die gesamte Bevölkerung. Durch hohe Impfquoten, gute Testinfrastruktur und allgemein bestehen in Westeuropa gute materielle Voraussetzungen auch zum Kampf gegen die Delta-Variante. Etliche Landkreise waren im Frühsommer Corona-frei. Doch diese „grünen Zonen“ wurden nicht geschützt.

  • Inzidenzen und insbesondere die Anteckungsrate (Reproduktionszahl) bleiben zentral. Lockerungen sollten nur in Erwägung gezogen werden, wenn dadurch nicht wiederum eine bestimmte Ansteckungsrate überstiegen wird. Ein fortwährendes Sinken der Fallzahlen (etwa R<0,8) sollte gesichert werden, statt bloß abzuwarten, bis Inzidenzgrenzwerte überstiegen werden und es bereits zu spät ist zum Gegensteuern
  • Grüne Zonen, das heißt Gebiete ohne Ansteckungen, müssen durch Quarantänen, Tests, und Tracing geschützt werden Anstelle eines Lockerungswettbewerbs könnte ein Wettbewerb um die Elimination des Virus treten.
  • Testpflicht, Maskenpflicht (auch für Geimpfte), Homeoffice-Pflicht, Quarantänen bei Einreise aus Gebieten mit höherer Inzidenz und Kontaktisolierung sind milde Maßnahmen, mit denen Inzidenzen untengehalten werden können.

Je höher die Inzidenzen, desto schwerer wird es, ohne einen Lockdown eine Überlastung des Gesundheitssystems und massive Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit durch die hunderttausenden Fälle von Long Covid zu vermeiden.

Je mehr Menschen weltweit erkranken, desto wahrscheinlicher ist es, dass sich neue Virusvarianten bilden, gegen die auch die bisher besten Impfstoffe noch weniger helfen als gegen die bereits Immunität umgehenden Varianten Beta und Delta. Was für ansteckender, gefährlichere oder Immunität umgehende Varianten sich noch bilden können, ist nach derzeitigem Kenntnisstand (vgl. etwa den Bericht des Sage-Beratergremiums) völlig offen. Viele Geimpfte bei gleichzeitiger weiter Verbreitung des Virus unter Geimpften und Ungeimpften bilden die beste Voraussetzung für neue Mutationen, die Immunität umgehen. Im Labor wurden bereits gegen alle bekannten Antikörper resistente Varianten gezüchtet.

Rolle der Impfungen und ausreichender Versorgung mit wirksamen Impfstoffen

Die Delta-Variante besitzt eine Basisreproduktionszahl von ca. 6. Herdenimmunität durch die bisherigen Impfstoffe ist kaum noch möglich, besonders wenn der Schutz vor Infektion bei BioNTech nach einem halben Jahr auf ca. 50% sinkt, die vor allem auch in ärmeren Ländern genutzten Vektor- und Totimpfstoffe schützen nocnoch schlechter. Dennoch erleichtern die Impfungen den Kampf gegen die Delta-Variante: Sie verringern die Zahl der Ansteckungen (sodass die Bekämpfung jdf. nicht schwerer als beim Wildtyp ohne Impfung sein muss), verhindern schwere Verläufe und erschweren eine Rückkehr des Virus in coronafreie Regionen. Deutschland und andere reiche Länder erleben nur deshalb mit ihrer zurückhaltenden Pandemiebekämpfungsstrategie nicht bereits jetzt eine viel krassere humanitäre Katastrophe, weil der hierzulande eingesetzte Impfstoff, besonders der hochwirksame mRNA-Impfstoff in ärmeren Weltregionen fehlt. Ohne genügend hochqualitative Impfstoffe fällt der Kampf gegen das Virus besonders schwer. In New South Wales etwa ist trotz Eliminationsstrategie die Delta-Welle noch immer nicht gebrochen. Vietnam, das zuvor konsequent alle eingeschleppten lokalen Ausbrüche hatte unterdrücken können, hat nur wenigwenige Impfdosen erhalten und steht jetzt am Höhepunkt der Delta-Welle, der das nur deshalb ausgesetzt ist, weil andere Länder nicht ebenso konsequent das Virus ausgerottet zu haben. Doch beispielsweise Taiwan ist trotz eingeschleppter Delta-Fälle die Rückkehr zur Null gelungen.

Wenn wir die Pandemie weltweit schnell wie möglich beenden wollen, brauchen wir ein massiv ausgebautes Angebot an hochwirksamen und nebenwirkungsarmen mRNA-Impfstoffen. Für diese besteht auch die höchste Chance, dass bald die Entwicklung von an Varianten angepasste Auffrischungsimpfungen Erfolge zeigt. Für den Ausbau der Produktion braucht es Technologietransfer, Investitionsprogramme und Kooperation entlang der gesamten Lieferkette. Eine besondere Verantwortung liegt hier bei den USA und Deutschland als den Standorten von BioNTech, Moderna, Pfizer und CureVac – weshalb auch jüngst über 200 Wissenschaftler*innen und zivilgesellschaftliche Organisationen die US-Regierung aufgefordert haben, staatliche Befugnisse zu nutzen, um Technologietransfer zu erzwingen und in den Aufbau einer ausreichenden Impfstoffproduktion zu investieren. Wenn wir die Pandemie konsequent bekämpfen und zugleich ein global gerechtes Impfprogramm mit ausreichender Ausstattung an Dosen ermöglichen, können wir das Rennen gegen die Varianten gewinnen!

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