In den zahlreichen Reaktionen auf den Aufruf #ZeroCovid ist immer wieder eines zu hören und zu lesen: Ein solidarischer Shutdown sei nur “autoritär” durchzusetzen.
Von manchen heißt es, die Kampagne #ZeroCovid selbst folge einer “halbtotalitären Fantasie” oder mache sich mit einer solchen gemein, andere bezweifeln die Machbarkeit eines solidarischen Shutdowns unter den gegebenen Bedingungen ohne weitere Verschärfung staatlicher Überwachung, Mobilitätskontrolle und Polizeipräsenz und sehen in dem Aufruf eine zu geringe Beschäftigung mit diesem Punkt und seinen gravierenden Folgen.
In all seinen verschiedenen Varianten hat dieser Kritikpunkt an der Kampagne #ZeroCovid im medialen Echo bereits unterschiedliche Erwiderungen erfahren.
#ZeroCovid ist derzeit keine feste Organisation, sondern ein lose um die Forderungen und Vorschläge des Aufrufs bestehendes Netzwerk. Um unterschiedliche Positionen aus dem Kontext der Kampagne abzubilden, ohne künstlich über Unterschiede in unseren Auffassungen hinwegzugehen, haben wir deshalb im Folgenden einige Thesen und Statements gesammelt. Sie alle kreisen um das Verhältnis zum Staat und um die Frage nach der autoritären Durchsetzung der Maßnahmen. Keine von diesen Aussagen stellt den einen Konsens dar, aber zusammen sollen sie ein Bild von der Diskussion geben, die wir innerhalb von #ZeroCovid und in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung für eine solidarische Alternative zur gegenwärtigen Pandemiepolitik führen wollen.
Demokratische Pandemie-Politik
Von Verena Kreilinger/Christian Zeller
Die seit Beginn der Pandemie von den Regierungen ergriffenen Maßnahmen schränken unser soziales Leben und unsere Freizeit massiv ein. Gleichzeitig halten sie den Zwang zur Arbeit aufrecht. Die reproduktive Arbeit wird verdichtet, dies trifft insbesondere Frauen hart. Quarantänebrecher*innen sollen demnächst ins Gefängnis gesteckt werden. Die Außengrenzen werden auch für Schutzsuchende weiterhin gewaltsam geschlossen gehalten. Das Recht auf Versammlungsfreiheit wird nur eingeschränkt gewährleistet. Diese Pandemiepolitik ist längst autoritär. Ihre Zielsetzung ist es auch.
Die herrschende Pandemiepolitik zielt nicht darauf ab die Infektionsdynamik einzudämmen, sondern – stets die Kapitalinteressen im Blick – diese gerade so runterzudrücken, dass das Gesundheitssystem nicht komplett zusammenbricht, woraufhin die Regierungen einen massiven Vertrauensverlust erleiden würden. Dieses „geordnete Sterben“ trifft die Menschen ungleich. Die Wahrscheinlichkeit sich anzustecken, schwer zu erkranken und zu sterben, aber auch die Auswirkungen der bisher ergriffenen Maßnahmen treffen auf eine rassistisch und patriarchal geprägte Klassengesellschaft und verschärfen diese.
Mit dieser zynischen Strategie ist radikal zu brechen. Eine solidarische Perspektive auf ZeroCovid muss keineswegs den autoritären Staat befördern, sondern setzt ihm eine demokratische Alternative von unten entgegen. ZeroCovid ist eine emanzipatorische Strategie. Es geht darum, die Menschen transparent über die Ziele der Viruseindämmung zu informieren. Und sie von einer schwierigen, aber überschaubaren Zeit zu überzeugen. Sozialist*innen und emanzipatorische Linke setzen auf die kollektive Einsicht und die Lernfähigkeit der Menschen. Wir müssen wegkommen von einem administrativen und technischen Verständnis der Pandemiebekämpfung hin zu einem gesellschaftlichen Verständnis.
Ob sich ein autoritärer Staat durchsetzt, hängt nicht davon ab, ob die Pandemie härter oder weniger hart bekämpft wird. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass jene Staaten, die die Pandemie entschlossen bekämpft haben und dies weiterhin tun, durch diese Strategie autoritärer wurden, als sie das vor der Pandemie waren. Ein solcher Prozess hängt vielmehr von der Dynamik der politischen Kräfteverhältnisse ab. Aber wie verändern wir die politischen Kräfteverhältnisse? Der erste Schritt besteht darin, eine alternative und solidarische Perspektive aufzuzeigen, wofür sich die Menschen gewinnen und begeistern lassen. Eine klare Haltung für die radikale Eindämmung der Pandemie, eine konsequente Verbindung von Gesundheit und Demokratie werden damit zu Voraussetzungen, um autoritären Tendenzen im Staat entgegenzutreten und die Menschen in dieser Widerstandsperspektive miteinander zu verbinden.
Getrieben durch die Ausbreitung des Virus und seiner Mutationen, sehen sich nun die Regierungen gezwungen, ihre einseitigen und teilweise willkürlichen Lockdowns zu verschärfen und verlängern. Ohne allerdings den Menschen ein klares Ziel mitzuteilen. Je länger diese für das Leben und die Gesundheit der Menschen sowie für die gesamte Gesellschaft verheerende Dynamik anhält, desto stärker greifen die Regierungen zu autoritären Mitteln. Seit einem Jahr ist die gesellschaftliche Linke gelähmt und schaut zu. Das muss sich ändern. Ansonsten droht weiteres gesellschaftliches Elend und eine weitere politische Demoralisierung emanzipatorischer Kräfte.
Dieser Text wurde bereits in ausführlicherer Form zusammen mit einem Statement von Benjamin Opratko auf dem Mosaik-Blog veröffentlicht: https://mosaik-blog.at/zerocovid-gesundheitspolitk-corona/
Zur Kritik von links und zum Autoritätsvorwurf
Von Regina Stosch
Eine Kampagne von links benötigt Kritik, um zu wachsen, sich zu entwickeln und Positionen und Vorgehen zu überprüfen. Auch, um Fehler zu korrigieren. Sie hat Respekt im Umgang verdient. Kritik sollte an den wirklichen Kritikpunkten ansetzen. Wer behauptet, die Initiative fördere einen autoritären Staat, da ein wirkungsvoller Shutdown nur über Zwang und Gewalt erreicht werden kann, sollte zur Kenntnis nehmen, dass #ZeroCovid in Australien und Neuseeland ohne Zwang erfolgreich war. #ZeroCovid setzt auf das Einverständnis der Bevölkerung, die das Ziel teilt, trotz Pandemie wieder zum Alltagsleben zurückzukehren und die Infektionen niedrig zu halten.
Auch die Wissenschaftler:innen, die ZeroCovid entwickelt haben, gehen den Weg über das Ziel und die Motivation der Bevölkerung. Hinzu kommt die Macht des Faktischen. Ich muss niemanden überzeugen, einen Mundnasenschutz zu tragen, wenn der Nahverkehr nicht fährt.
Was für ein Menschenbild wird offenbart, wenn wir vernünftiges Handeln nur über Zwang denken können? Eine politische Initiative sollte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen, sonst ist es Schwurbelei. Die wissenschaftliche Grundlage ist bei #ZeroCovid gegeben. Man kann das Konzept in der Zeitschrift Lancet u.a. nachlesen. Wissenschaftler:innen wie Viola Prieseman, Melanie Brinkmann, Sandra Ciesek, Isabella Eckerle u.a. wenden sich mit Briefen an die EU und an die Bundesregierung. Wirtschaftswissenschaftler:innen bestätigen, dass ein kurzer, aber wirkungsvoller Shutdown weniger wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und persönlichen Schaden zufügt, als ein monatelanges Gezerre. Ohne einen Strategiewechsel zieht sich das bis in den Sommer. Was für Belastungen muten wir den Familien zu, den Kulturschaffenden, den Kleinbetrieben, Kneipen etc., ohne ihnen eine Alternative anzubieten? Auch Kritik muss wissenschaftlich fundiert sein. Sich zu einer Initiative von links zu verhalten, benötigt Zeit und eine gründliche Analyse. Und das setzt Nachfragen und einen Austausch mit den Initiator:innen voraus.
Der bürgerliche Staat: Meister über Leben und Tod
Von Matthias Schimpf
Der Staat hat grundsätzlich die Funktion des “ideellen Gesamtkapitalisten”. Einerseits ist der Staat vom Kapital abhängig. Andererseits muss der Staat von Einzelunternehmen und Kapitalfraktionen unabhängig sein, “um das kapitalistische Gesamtinteresse und die besten Wege zu seiner Durchsetzung bestimmen zu können” (Michael Heinrich). Wie dieses Gesamtinteresse aussieht, ist nicht immer klar und aktuell in der Pandemie besonders umstritten. Zudem muss der Staat nicht nur die richtige Linie finden, sondern diese auch noch gegenüber der Bevölkerung legitimieren, oder zumindest durchsetzen können, zur Not mit massenhafter Repression.
Stichwort Repression – der Staat ist m. E. eine Herrschaftsmaschinerie: er beansprucht das Gewaltmonopol, das Definitionsrecht darüber wer Bürger_in ist und wer nicht (und damit rechtlos), die Macht über die Außengrenzen, setzt bewaffnete Staatsorgane wie Polizei und Armee ein, setzt die herrschende Ordnung durch, z. B. durch die Etablierung der Arbeitspflicht, HartzIV, Abschiebungen etc., und ist zudem, wie wir zumindest für Deutschland wissen, durchsetzt von Rechten, Antisemit_innen und Nazis. Die “sozialen” Institutionen des Staates, z. B. Bildung und Sozialzahlungen, dienen dem Erhalt bzw. der Neu-Ausbildung der Arbeitskraft, oder dem Erhalt des sozialen Friedens, aber nicht den einzelnen Menschen. Schulbildung z.B. ist daher kein Selbstzweck für junge wissbegierige Menschen, sondern Vorbereitung auf die Lohnarbeit.
Der Staat in der bürgerlichen Gesellschaft ist als Träger des Gewaltmonopols auch der Meister über Leben und Tod, nicht nur im Krieg oder durch die Polizei, auch in solchen Fragen wie Sterbehilfe bei Pflegebedürftigen. Ernst Bloch hat den Tod als die „härteste Gegenutopie“ bestimmt. Das aktive Einverständnis mit dem Tod bedeutet nach Herbert Marcuse „Einvernehmen mit dem Herrn über den Tod: … dem Staat, der Natur oder dem Gott“. In der Corona-Krise zeigt sich das besonders drastisch: mit der Strategie des kontrollierten Laufen-Lassens („flatten the curve“) nimmt der post-nationalsozialistische deutsche Staat bewusst das Sterben von zehn- oder hunderttausenden v.a. älteren, behinderten und vor-erkrankten Menschen in Kauf, entscheidet also zugunsten der Wirtschaft gegen deren Leben. Wolfgang Schäuble als einer der hochrangigsten Staats-Charaktermasken hat letztes Jahr klargestellt, dass das Leben – und hier insbesondere das Leben von alten, behinderten und vorerkrankten Menschen – nicht das höchste Gut für die Herrschenden ist: „Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig.“ Der Staat richtet sich im Lockdown also auf ein kontrolliertes Massensterben ein. Im Gegensatz zum Nationalsozialismus natürlich auf keine aktiv betriebene Vernichtungspolitik a la Euthanasie, mit einer freundlicheren Rhetorik und von verbalem Mitleid gegenüber den Alten begleitet, aber unerbittlich in den tödlichen Konsequenzen.
Konkret auf die Maßnahmen bezogen reagiert der Staat bisher m.E. auf die Pandemie mit einer Mischung aus Liberalismus, v.a. gegenüber dem Kapital, und Repression, v.a. gegen die Freizeit und das Privatleben, also den Residuen der Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft. Dazu gehören u.a. Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und ein andauernder Lockdown des Freizeits- und kulturindustriellen Bereichs. Dies trifft die Unterschicht, das Proletariat, Geflüchtete, Wohnungslose, Junkies etc. besonders krass: sie haben keine FeWo im Grünen, sie leben häufig in beengten Verhältnissen oder auf der Straße, und in der Öffentlichkeit sind sie den Polizei-Streifen am Ehesten ausgesetzt. Es gibt also eine Durchsetzung der Maßnahmen durch die Polizei, die gewaltvoll ist, wie auch das Vorschreiben der Kontaktbeschränkungen autoritär und von oben herab geschieht. Es regiert ein Verordnungsstaat, der auch das Infektionsschutzgesetz beispielsweise deutlich zentralisiert hat und damit findet eine Machtkonzentration statt. Was die Linken, die #zerocovid nun etwas platt als autoritär kritisieren, aber übersehen – oder absichtlich verschweigen: die sozial Benachteiligten und Proletarisierten leiden nicht nur unter der Knute der Polizei, sie leiden gleichzeitig auch am Härtesten unter dem Virus! Zum Einen da ihre Arbeitsplätze am häufigsten Infektions-Hotspots sind, am wenigsten im HomeOffice stattfinden und sie eben oft in einer Umgebung leben, in der “Kontaktreduzierung” kaum umsetzbar ist. Zum Anderen, wenn sie infiziert werden, haben sie deutlich überdurchschnittlich einen schweren oder tödlichen Verlauf: Studien zeigen z. B. dass HartzIV-Empfänger_innen ein um 80% erhöhtes Risiko für einen statiönären Aufenthalt wegen einer Corona-Infektion haben. Und in UK haben Fabrikarbeiter_innen zwischen 20 und 64 Jahren ein mehr als 4-fach erhöhtes Risiko, an Corona zu sterben, als die Vergleichsgruppe im selben Alter. Wenn Linke (meist aus der Mittelschicht) nun meinen, für die Unterschicht zu sprechen, sollten sie doch auch bitte erläutern, wie aus ihrer Sicht denn die klassen-spezifische Bedrohung durch Corona abgewendet werden kann.
Der Staat ist für mich aus den genannten Gründen grundsätzlich kein Ort der Linken. Gleichzeitig ist gerade in der Pandemie der Staat der zentrale Akteur der gesellschaftlichen Regulation, an dem wir im Moment nicht vorbei kommen. Aber wir sollten im Blick behalten, dass a) diese Machtfülle grundsätzlich sehr problematisch ist, b) der Staat nur durch äußeren Druck zu menschenfreundlich(er)en Kompromissen bereit ist, um weiterhin legitimiert zu sein, c) jede Maßnahme des Staates ein Herrschaftsakt ist, der von uns grundsätzlich kritisch zu prüfen und begleiten ist, und d) der Staat auch einzelne Facetten von #ZeroCovid übernehmen und uns entwenden kann, um z. B. einen harten Lockdown ohne soziale Komponente zu erzwingen. Daher sollte die zentrale Forderung von #ZeroCovid nicht “harter Lockdown” à la Australien sein, sondern eine von unten getragene und erwirkte, solidarisch finanzierte Auszeit der Wirtschaft. In diesem Sinne: große Pause der Lohnarbeit und der Pflicht, statt hartes Durchgreifen des Staates!
Staatliche und nicht-staatliche Zwänge
Von Anton Stortchilov
Wir leben in einer Gesellschaft voller Zwänge, von denen die wenigsten staatlich durchgesetzt werden müssen. In jedem Unternehmen wird Herrschaft ausgeübt – und wer dort nicht pariert, kommt ins (staatliche) Hartz-System, das sich darauf spezialisiert hat, Unwillige zum Gehorsam zu erziehen. Die Unternehmer sind dabei auch keine freien Schmiede ihres Glückes, sondern Diener der Märkte. Ein staatlicher Zwang (zum Beispiel der, die Arbeitszeit auf 8 Stunden am Tag zu beschränken) kann in diesem System für die von ihm betroffenen Menschen einen Zugewinn an Freiheit bedeuten und nicht etwa einen Verlust. Die Marktwirtschaft selbst ist allerdings auch nicht vom Himmel gefallen – sie ist ein gesellschaftliches Verhältnis, dessen Modalitäten (Privateigentum, Vertragstreue etc.) durch staatliche Gewalt durchgesetzt werden.
Millionen Menschen mit Risikofaktoren, die für ihren Quatschjob ins Büro fahren müssen, würden gerne zuhause bleiben. Sie würden vielleicht auch gerne das Kind erstmal nicht in die Schule schicken. Sie können das nicht, weil dann niemand die Miete bezahlt und das Essen auf den Tisch stellt. Diese Menschen würden durch die Forderungen von #ZeroCovid aus ihrer Zwangslage befreit. Aber auch ein verbindliches Recht auf Homeoffice, das die Arbeitnehmer von ihren Arbeitgebern einklagen können würden, wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung.
Die gegenwärtige Strategie der Regierungen setzt auf Lockdowns verschiedener Schweregrade alle drei bis vier Monate – wenn es überhaupt gelingen sollte, bis Mitte Februar die Zahlen so weit zu senken, dass man nicht nach der absehbaren Öffnung schon Anfang März Intensivstationen am Anschlang hat. Eine Strategie von härteren, dafür aber zeitlich wie regional begrenzten Schließungen würde helfen, einen landesweiten Lockdown erst gar nicht wieder notwendig zu machen und würde den Menschen in Kassel auch dann ihre Freiheit lassen, wenn es in Frankfurt wieder einen Ausbruch gibt.
Die ganze Argumentation, mit der Umsetzung sinnvoller Präventionsmaßnahmen würde der staatlichen Repression allgemein Tür und Tor geöffnet, vermag im Angesicht der bestehenden gewaltigen Kontrollapparate, wie sie auch Snowden aufgezeigt hatte, nicht wirklich zu überzeugen. Wir leben bereits jetzt unter datenschutzmäßig dystopischen Bedingungen. Ein Mehr an Kompetenzen als die, die der Staat jetzt schon hat, fordert niemand. Wir fordern ein Mehr an Kompetenz.
Bedürfnisorientierte Gesundheitspolitik
Von Anna Katarrh
Konkrete Forderungen zur Pandemie-Bekämpfung können sich nur an diejenigen richten, die auch die Macht haben, sie umzusetzen. Aber im Kampf für eine radikal andere Gesundheitspolitik steckt die Idee eines grundlegenden Wandels.
Im bestehenden Staat geht es um die Aufrechterhaltung des kapitalistischen Gangs der Geschäfte. In der Situation der Pandemie führt dies zu widersprüchlichen politischen Maßnahmen: Das Interesse an der (kurz- und langfristigen) Verfügbarkeit der Arbeitenden, also ihrer Gesundheit im Sinne ihrer Arbeitsfähigkeit, muss immer wieder mit dem Interesse an einem möglichst ungebrochenen Weitergehen des kapitalistischen Wirtschaftens ausbalanciert werden. Dabei werden durch die gesundheitspolitischen Maßnahmen nicht etwa aus Versehen, sondern systematisch Klassenunterschiede reproduziert – das Ziel der Maßnahmen ist ja die Aufrechterhaltung der bestehenden Produktions- und damit auch Klassenverhältnisse.
In der Idee einer Gesundheitspolitik, der es im Gegensatz dazu tatsächlich um das Wohlergehen aller ginge, steckt die Idee einer anderen politischen Organisation. Wenn Politik an den Bedürfnissen aller orientiert wäre, müsste sie radikal-demokratisch sein und sie müsste das Ausbeutungsverhältnis Kapitalismus abschaffen und damit auch den kapitalistischen Staat.
ZeroCovid als Einsatzpunkt für linke Politik
Von Ivo Eichhorn
Staatlich verfügte Grenzschließungen und Regime der Mobilitätskontrolle kennzeichneten den bisherigen Umgang mit der Pandemie in weiten Teilen Europas. In Deutschland wurde die Entscheidungsgewalt in wichtigen Fragen der Pandemiebekämpfung von den Parlamenten zu den Exekutiven verschoben. Ein vermeintlicher Sachzwang regierte dabei fast alle politischen Positionierungen: das sogenannte „Wohl der Wirtschaft“. Schreibt man die Forderungen und Vorschläge von #ZeroCovid in diese Perspektive ein, ergibt sich die Suggestion, es handle sich um einen Ruf nach mehr staatlicher Kontrolle und damit einhergehendem Zwang. Zu einem solchen Eindruck trägt bei, dass der Aufruf #ZeroCovid in Bezug auf die staatliche Dekretierung und Regulierung des Alltagslebens zu still ist.
Doch den Aufruf so zu deuten, hieße ihn unter den Maßgaben der herrschenden Politik aufzunehmen. Vielmehr sollte #ZeroCovid als Einsatzpunkt für eine linke Politik in der Pandemie verstanden werden. Eine solche hat bislang kaum eine relevante, eigenständige Rolle gespielt. Sowohl die Liebe zum (bestehenden oder einem vorgestellten) Staat als auch der Hass auf den Staat, helfen der Linken nicht weiter. Wo sich daran gemacht wird, eigenständige Praktiken und Vorschläge auszubilden, wie ein solidarischer Shutdown aussehen kann, entsteht Distanz zu diesen affektiven Bindungen an den Staat.
Das Zeichen, das der Aufruf sendet, können wir versuchen in die Entwicklung von gesellschaftlicher Handlungsfähigkeit zu übersetzen, die niemanden zurücklässt. Das kann Hoffnung machen auf Weisen des Zusammenlebens, in denen der Schutz der Gesundheit nicht bloß von einer verordnenden Instanz eingefordert werden muss, sondern gesellschaftlich über Zugehörigkeiten hinweg praktiziert werden kann.
Der Staat in kapitalistischen Gesellschaften repräsentiert nicht irgendein Gesamtkapital, als hätte Kapital eine einheitliche Stimme und sei nicht zerspalten und in unterschiedliche Projekte der Akkumulation investiert. Konstitutiv aber ist der Staat Konzentrationspunkt für Versuche eine Hegemonie zu errichten, also eine führende Richtung zu etablieren, die als Allgemeines firmiert und inszeniert wird. Die Versuche im Angesicht der Pandemie der Regierungen in D-A-CH eint dabei allesamt die Perspektive der Aufrechterhaltung der Lohnarbeit über die notwendigsten Bereiche zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens hinaus. Genau dieser Drang bringt die staatlichen Akteure in ihren verschiedenen Programmen und Vorschlägen zur Pandemiebekämpfung in einen Selbstwiderspruch. Deshalb trifft die Zentrierung um die Lohnarbeit in der gegenwärtigen Situation – keineswegs immer – einen Knotenpunkt, an dem Stimmen einsetzen können, die in der global fortdauernden Krise folgenreich werden könnten.
Denn staatliche Akteure, die in einem Selbstwiderspruch gefangen sind, sind selbst ohnmächtig. Wo Ohnmacht regiert, liegen autoritäre Mittel gegen jene bei der Hand, die sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht konform der geltenden Regeln verhalten oder verhalten können. Die Perspektive des solidarischen Shutdowns sollte gegen die Zwangsmaßnahmen und Repressionen gerichtet sein, die die jeweiligen Versuche staatlicher Konsensbildung ergänzen und flankieren.
Wenn der Aufruf fordert, dass der Zwang zur Lohnarbeit auszusetzen ist und dass dies von den Arbeitenden selbst zu gestalten ist, dann setzt er zugegebenermaßen soziale Bewegungen voraus, die es derzeit so nicht gibt in diesem Teil der Welt. Zugleich jedoch setzt er da ein, wo die kollektive Selbstbestimmung über die Mobilität aufgerufen werden muss, als politisches Projekt. Lohnarbeit impliziert konstitutiv den Umgang mit und die Organisation von Mobilität. Der Aufruf ermöglicht diesen Komplex einem anderen Kriterium zu unterwerfen, als die Perspektive staatlicher Verordnung: Einschränkung aller durch die Aussetzung der Lohnarbeit unnötig werdenden Mobilität, die aber nicht gegen diejenigen, die sich bewegen, sondern gegen diejenigen, die eine bestimmte Mobilität der Arbeitenden erzwingen, erkämpft werden muss. Dazu bedarf es demokratischer Handlungsmacht, nicht der bürokratischen und polizeilichen Form. Die Einforderung demokratischer Rechte – nicht zuletzt im Digitalen –, wie Versammlungsfreiheit und Bewegungsfreiheit, wird in dieser Perspektive sogar zentral, um für eine Aussetzung der Lohnarbeit eintreten zu können. Dafür muss gegen eine nationale Anrufung, die nur das (Staats-)volk kennt, eine Orientierung treten, die andere Verbundenheiten aufruft und praktizieren lässt: Über die ideologischen Grenzziehungen hinweg, die die Lebensverhältnisse im globalen Süden, auf der Flucht und zwischen verschiedenen Staaten ausblenden und mindestens implizit abwerten.
Doch zu stark scheint die nationale Mobilisierung in Zeiten der Faschisierung, zu schnell könnte die fatale Evidenz greifen, das „Eigene“ sei das Schützenswerte, die „Anderen“ abzulehnen. Es fehle konkret, anders als im Frühjahr 2020, die Massenbereitschaft für eine gemeinsame Zurückdrängung des Infektionsgeschehens. Der Massenkonsens, wie er mit nationalen Untertönen existierte, gegen die Pandemie freiwillig auf bestimmte Alltagspraktiken der Begegnung und der Freizeit zu verzichten, sei über die Monate dahingeschmolzen.
Was lässt sich dagegen sagen? Vielleicht, dass jede fatalistische Vorstellung der Bedingungen für eine Veränderung, nur die untergeordnete Position reflektiert, in der sich die alternativen Politikformen derzeit befinden. Umso mehr müssen wir diskutierend und streitend versuchen, eine andere Form der solidarischen Massenbereitschaft herzustellen, die nicht im Staat ihren Anfang und ihr Ende zu finden braucht.
Zum Argument “Ihr fordert doch den autoritären Staat!”
Aus einer Arbeitsgruppe
Diese Repression gibt es doch schon, nur richtet sie sich vor allem gegen ohnehin schon benachteilige Gruppen. Die Abschottung findet statt, aber eben nicht aus epidemiologischen, sondern aus rassistischen und ableistischen Gründen. Das alles passiert schon seit Monaten, ohne dass es medizinisch groß etwas ändert. Mit dem Virus lässt sich nicht verhandeln, also werden gerade Risiken verteilt. Die einseitigen Maßnahmen, die vor allem ein Weiterlaufen der Profitmaschinerie zum Ziel haben, treffen derzeit vor allem jene Leute, die sich nicht wehren können. Wir leugnen aber gar nicht, dass auch bestimmte Zwangsmaßnahmen nötig sind. Sowohl das Verzichten auf Profite und Einstellen der Produktion, als auch eine europaweite Covid-Solidaritätsabgabe auf hohe Vermögen, Unternehmensgewinne, Finanztransaktionen und die höchsten Einkommen wird wahrscheinlich nicht ausschließlich auf Basis von Freiwilligkeit erfolgen. Allerdings werden davon vor allem jene betroffen sein, die bisher (anders als große Teile der Bevölkerung) ganz gut durch die Pandemie gekommen sind. Man kann es autoritär finden, dass auch diese für die Folgen der Pandemie in die Pflicht genommen werden, aber das macht es in unseren Augen trotzdem nicht falsch.
Psychosoziale Folgen eines Shutdowns ins Zentrum der Strategiedebatte rücken!
Von Lars Bretthauer
Ich möchte mich an dieser Stelle dafür stark machen, die psychosozialen Folgen eines solidarisch gestalteten Shutdowns innerhalb der Kampagne stärker zu thematisieren. Wenn wir uns vor Augen führen, dass die momentane Regierungsstrategie in Deutschland darin besteht, der Bevölkerung zu kommunizieren, dass „wir uns alle einschränken müssen, um die Zahlen zu senken“, kann die Forderung nach „ZeroCovid“ auf den ersten Blick als massive und diffuse Repressionsdrohung von Seiten der Kampagne gelesen werden. „ZeroCovid“ würde dann im Sinne eines stark top-down angelegten, technokratischen und vor allem rücksichtslosen Politikprogramms verstanden werden. Das ist aus meiner Sicht ein Riesenproblem. Umso mehr gilt dies, als die mit einem Shutdown verbundenen negativen psychosozialen Folgen sehr vielfältig sind, wie innerhalb der undogmatischen Linken auch breit bekannt ist.
Aus der bisherigen Diskussion in der ZeroCovid Arbeitsgruppe zu „Care / Feminismus / Psychosoziale Folgen“ ergab sich die folgende Liste von Aspekten, auf die ein verstärktes Augenmerkt zu legen wäre. Die Problematik psychosozialer Folgen eines Shutdowns ist damit allerdings bei Weitem noch nicht erschöpfend erfasst:
1. Soziale Isolation, insbesondere von alleinstehenden Menschen
2. Damit verbunden: verschärfte soziale Isolierung durch Home-Office-Strategien, was aus meiner Sicht den Aspekt des wirtschaftlichen Shutdowns relativiert
3. Begrenzte Wohnverhältnisse, insbesondere unter klassenpolitischen Gesichtspunkten
4. Kinderbetreuung, Überlastung von Erziehenden, Schule und Schulersatz
5. Häusliche Gewalt
6. Psychische Effekte von Lockdown & Shutdown: Depressionen, starke Aggressionen, Psychosen, Perspektivlosigkeit, Suizid
Hinzu kommen – unabhängig von der Shutdown-Strategie – die Fragen nach Umgang mit dem Tod, Trauerarbeit und Abschied, sowie jener nach sozialen Trennungen zwischen „Kranken“ und „Gesunden“ (bezogen auf Covid) und der sich eventuell anbahnenden Etablierung einer neuen Statusgruppe der „Geimpften“.
Ich fände es grundsätzlich wichtig, dass diese und andere Punkte mehr in den Mittelpunkt der Kampagnen-Debatte gerückt werden, auch um zu klären, was „Zero“ wirklich meint oder heißen soll. Ich lese Kommentare, die „Zero“ als eine Utopie behandeln, andere vergleichen es mit der Forderung ‘Kein Mensch ist illegal‘. Ich teile diesen utopischen Kern und das Ansinnen, den Weg aus der aktuellen Krise in solidarischen Praxen zu suchen. Dafür ist gut, wenn die Kampagne nicht ausstrahlt, sie hätte den „Masterplan“ gefunden, der mit Sicherheit klappen wird. Stattdessen sollte sie versuchen, realistische Versprechen und Transformationsmodelle zu formulieren. Dazu gehört aus meiner Sicht auch, die negativen psychosozialen Folgen eines Shutdowns von Anfang an integral mitzuthematisieren und auch hier nach solidarischen Lösungen zu suchen. Deshalb würde ich generell eine Arbeitsteilung vermeiden wollen, in der die epidemologischen „hard facts“ und die Politikstrategie naturwissenschaftlich vorgegeben und deren psychosoziale Folgen dann sozialwissenschaftlich „aufgefangen“ werden sollen. Das wäre für mich politisch radikal verengend.
In Anbetracht von zum Teil harschen Kritiken und Distanznahmen aus dem linken und linksliberalen Spektrum an dem Aufruf #ZeroCovid, die um die negativen Folgen eines Shutdowns für subalterne Gruppen einerseits und um den Vorwurf einer unreflektierten Anrufung der repressiven Staatsapparate bzw. einer historisch und alltagspolitisch unreflektierten Forderung nach einer Einschränkung von Grundrechten kreisen, stellt sich dieser Aspekt als grundlegend für die weitere Arbeit bezüglich #ZeroCovid dar.
Es ist zu fragen: Was ist die grundsätzliche Strategie? Geht es (1) darum, einen Shutdown zu fordern und versuchen ihn direkt durchzusetzen und dann nachgeordnet mit den negativen Folgen umzugehen? Oder sollen (2) erst (!) die solidarischen Bedingungen für einen Shutdown erkämpft werden, um diesen dann vorsichtig durchzusetzen? Wenn es weder 1 noch 2 sein soll, weil der erste Weg zu drangsalierend und repressiv wäre, der zweite zu lang andauernd angesichts der Bedrohungslage durch die Corona-Pandemie, was ist dann die politische Alternative? Keine direkten Forderungen auf Regierungsebene stellen, um dem unsolidarischen Lockdown der Bundesregierung nicht noch mehr Legitimität zu verleihen, und sich auf konkrete Soliarbeit für Betroffene konzentrieren? Oder eine Mittelstrategie formulieren, die ein Shutdown-Tempo entsprechend der erkämpften sozialen Rechte und Absicherungen von unten vorsieht?
Autoritäre Potentiale der Pandemiebekämpfungspolitik
Von Jonathan
Vorbemerkung zur Autorität
Um eine Einschätzung zu versuchen, inwiefern die Forderungen der #ZeroCovid-Kampagne eine autoritaristische Gefahr beinhalten, möchte ich zunächst den Autoritätsbegriff einschränken: Statt von einer weiteren etwa auch sozialpsychologische Phänomene mit einschließenden Bedeutung von Autorität auszugehen, setze ich den Fokus auf das Ausgreifen der – per definitionem autoritären – Zwangsmittel des Staates im engeren Sinne. Von einer autoritaristischen Gefahr möchte ich insbesondere reden, insofern die Ausweitung jener Zwangsmittel die Möglichkeit politischer Opposition als solcher einzuschränken droht. Dieser Fokus ist zum einen eine Reaktion auf die gegen #ZeroCovid gerichteten Vorwürfe, die sich insbesondere die Adressierung des Staates in den Forderungen der Kampagne kritisieren. Zum anderen liegt dem die Überzeugung zu Grunde, dass Zwang und Gewalt methodisch zentraler Ausgangspunkt zum Verständnis gesellschaftlicher Verhältnisse sind. Dies heißt nicht, Staat und Autorität als bloße Repression misszuverstehen, sondern die produktive Formierung gesellschaftlicher Praktiken gerade von dem her zu bestimmen, was in ihnen ausgeschlossen ist, was nur mit Zwang beantwortet werden kann und was in ihnen zum unvermittelbaren Widerspruch wird. In der Debatte um #ZeroCovid wird so der diffusen Diskussion um die Einschränkung von „Freiheiten“ im Allgemeinen erst einmal ein engerer Blickwinkel entgegengesetzt, der aber auch entscheidend ist, um zu vermeiden, durch Idealisierung auf Zwang aufbauender Verhältnisse u.a. rassistische und nationalistische Denkweisen zu reproduzieren. Um es ganz plastisch zu machen in Bezug auf die Pandemie: Ich erspare mir für den Augenblick eine rein spekulative Diskussion auf der Ebene der Ideologie z.B. darum, ob jetzt der Konformismus des Nicht-Tragens von Masken, des Gesichtzeigens oder der Konformismus des Masketragens oder die repressive Toleranz des Nicht-Ansprechens auf unter der Nase oder unter dem Kinn getragene Masken das autoritärere Phänomen ist.
Autoritäre Entwicklung
Für ein realistisches Bild der autoritaristischen Potentiale bestehender oder geforderter staatlicher Pandemiebekämpfungsmaßnahmen müssen diese zunächst in Verhältnis gesetzt werden zu bereits unabhängig von der Pandemie bestehenden autoritären Entwicklungen der letzten Jahre. Ich beschränke mich dabei auf die BRD sowie internationale Entwicklungen, in denen sie eine zentrale Rolle spielt.
Im Inneren sind zu nennen: Verschärfte Polizei- und Zollgesetze, immer weitergehende Vorfeldkriminalisierung in verschiedenen Bereichen, Unendlichkeitspräventivhaft, insbesondere zur Repression von Asylsuchenden genutzt, Initiativen zu ausgeweiteter Überwachung – in Form von Vorratsdatenspeicherung, Bundestrojaner, Funkzellenabfrage, Videoüberwachung, Gesichtserkennung und jüngst dem Verschlüsselungsverbot –, Verschärfung des StGB etwa im Bereich der Widerstandsdelikte, Beschränkung von Verteidigungsrechten, Demonstrationsverbote.
Im Bereich des Grenzregimes: Aushöhlung des Asylrechts, Vehinderung rechtlichen Gehörs, Verschärfung von Unterbringungsbedingungen, Abschiebungen in Kriegsgebiete, Angriff aufs Kirchenasyl, Militarisierung und Brutalisierung an den Außengrenzen bis hin zum Ertrinkenmachen und -lassen und Erschießen von Flüchtlingen, Normalisierung von Pushbacks (insbesondere auch in Folge des EU-Türkei-Deals), Sicherheitsapparate finanzierende Externalisierung – wo nicht auf Grundlage freundschaftlicher Zusammenarbeit mit autoritären Regimen getragen von ökonomischem Druck – bestimmt die Außenpolitik, beispielsweise wird die marokkanische Besatzung und Repression in der Westsahara ebenso begünstigt wie Krieg der Türkei im eigenen Land wie in Nordsyrien und Nordirak, in Libyen werden mit der Finanzierung der sogenannten „Küstenwache“ die Milizen einer Bürgerkriegspartei unterstützt, systematische Geiselhaft von Flüchtlingen in Folterlagern begünstigt. Bestimmend sind dabei ein Sicherheitsdispositiv, ideologisch bemäntelt mit der „Schleuserbekämpfung“, und ein alle Autonomie der Flüchtlinge für politisch irrelevant erklärendes Fantasma der Kontrolle und Abschreckung, die nicht einmal mehr durch humanitaristische Maßgaben bemäntelt werden.
Außenpolitisch, im Bereich des unmittelbaren militärischen Engagements nimmt Deutschland derzeit noch weitgehend untergeordnete Rollen ein: Der von den USA dominierte “war on terror” als autoritäres und rassistisches Dispositiv wird unterstützt etwa im Bereich des Drohnenkriegs oder im Bereich der unrechtmäßigen Internierung durch Nichtaufnahme von Gefangenen aus Guantanamo. Dennoch erstarken bellizistische Ambitionen, im politischen Diskurs wird der Krieg zur Migrationsabwehr oder zur Verteidigung ökonomischer Interessen immer weiter normalisiert.
Nicht zu trennen ist die autoritäre Entwicklung innerhalb der Regierungspolitik von Bund und Ländern von einer oppositionellen autoritären Formierung, die politisch insbesondere durch den Aufstieg der AfD erstarkt ist und sich im rechten, rassistischen Terror zeigt, etwa in Form von Brandanschlägen auf Unterkünfte oder der Mordanschläge in München, Istha, Halle und Hanau. Die Rechtsverschiebung in Migrations- und Sicherheitspolitik wird auch als notwendiges Zugehen auf jene autoritäre Formierung begründet. Nicht nur gibt es ideologische Kontinuitäten zwischen Regierung und autoritärer Formierung, diese wirkt auch in den Sicherheitsapparaten selbst. Rassismus, Rechtsextremismus und Autoritarismus in Polizei, Geheimdiensten und Militär reichen bis hin zur Vorbereitung politischer Säuberungen durch bewaffnete Gruppen. Der ehemalige Bundesverfassungsschutzchef Maaßen tritt mittlerweile als Vertreter von offenem Rassismus und Verschwörungstheorien auf.
Stärkung autoritärer Strukturen durch die Pandemiebekämpfungspolitik?
Zwei autoritaristische Gefahren der Pandemiebekämpfungspolitik lassen sich ausmachen: Sie kann neue autoritäre Strukturen hervorbringen, die über die Pandemie heraus Bestand haben, oder sie kann bestehenden autoritären Entwicklungen zusätzliche Legitimität verleihen. Diese Effekte können zum einen für die bisherige Pandemiepolitik und zum anderen für erhoffte Wirkungen der Kerocovid-Kampagne und ihre Forderungen diskutiert werden.
In Bezug auf die bisherige Pandemiepolitik ist festzustellen: Neu geschaffene, potentiell über die Pandemiebekämpfung hinaus wirksame autoritäre staatliche Mittel sind kaum zu beobachten: Was ist die Empfehlung einer völlig anonymisierten Corona-App im vergleich zu Funkzellenabfragen? Was ist der Missbrauch von Gästelisten zur Fahndung nach (Klein)kriminellen im Vergleich zum unabhängig von der Pandemie über den “war on terror” begründeten – keinen öffentlichen Aufschrei hervorrufenden – Verschlüsselungsverbot? Wie in anderen Ländern gibt es auch in der BRD einen autoritären Aktionismus, Politiker:innen setzen auf die autoritären Maßnahmen, die sie auch sonst immer aufrufen: Grenzschließungen als Spektakel, während Infektionszahlen gerade im Inland bereits höher sind und andere Felder als der grenzüberschreitende Reiseverkehr dringlicher zu behandeln wären und auch wenn gerade keine Mutation abzuhalten ist, Vertreibung von allein auf Parkbänken sitzenden Menschen, Auflösung von (linken) Versammlungen trotz Einhaltung von Hygieneauflagen. Angriffe auf Versammlungsfreiheit konnten jedoch juristisch weitgehend abgewehrt werden, die Regierungen haben sich dem mit der Zulassung von Versammlungen in den jüngeren Corona-Verordnungen gebeugt. Ausgangssperren waren überall auf der Welt in liberalen wie autoritären Staaten bereits bekannt als Mittel etwa der Bekämpfung von Ausschreitungen. Keineswegs wurde durch sie jetzt eine völlig neuartige Drohung oder Institution etabliert.
Dort wo bisher die staatliche Autorität mit besonderer Härte einsetzt, tut sie es auch in der Pandemiebekämpfung, allerdings nicht in grundsätzlich neuer Form: Die Polizei setzt racial profiling ein, kontrolliert sich vereinzelt auf der Straße aufhaltende Drogenkonsument:innen statt wohlsituierte Spaziergängergruppen, militarisierte Polizei setzt Quarantäne in Geflüchtetenunterkünften durch, wie sie dort auch sonst den Widerstand gegen Abschiebungen niederschlägt, in Gefängnissen gibt es Isolationshaft. Die Pandemie wird als Vorwand genommen, Flüchtlinge nicht aufzunehmen, die man sonst auch nicht aufgenommen hat und für deren menschenwürdige Unterbringung eigentlich gerade die Pandemiebekämpfung noch ein zusätzlicher Grund sein sollte. All das sollte genauso wenig erstaunen, wie dass etwa in noch einmal krasserer Weise Faschisten wie Modi, Duterte oder Orban Pandemiebekämpfungsmaßnahmen für ihre ohnehin bestehenden autoritären Projekte nutzen. Durch einen sich bloß auf die Pandemiebekämpfungsperspektive beschränkenden Abwehrkampf ist gegen diese Entwicklungen nichts gewonnen.
Ein Effekt der Legitimierung bestehender autoritärer Tendenzen scheint gerade aufgrund des massiven und offensichtlichen Scheiterns der staatlichen Pandemiepolitik fraglich, auch wenn sich ein Strategiepapier des Innenministeriums im letzten Frühjahr noch ein durch die Pandemie gewonnenes ‚neues Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft‘ erhofft hat (anders als etwa in China, wo zu befürchten steht, dass die Pandemie zur weiteren Legitimierung individueller Überwachung beiträgt). Hier wäre eine weitergehende empirische Untersuchung des Vertrauens in die repressiven Staatsapparate vor und während der Pandemie nötig.
In Bezug auf #ZeroCovid sei eines vorangestellt: Eine tödliche Pandemie ist gewiss eines der autoritärsten Dinge, die es gibt. Die staatliche Autorität steht mit ihr nur zu oft im Bunde, etwa wenn die unerträglichen mit massenhaften Infektionen einhergehenden Zustände in Flüchtlingslagern, Gefängnissen und Notunterkünften selbst noch gegen den massiven Widerstand der dort Einquartierten (in Moria Brandstiftung nach dem Corona-Ausbruch, Aufstände etwa in italienischen Gefängnissen) aufrechterhalten werden. Die sozialdarwinistische Option, im Virus den Vollstrecker einer politisch gewünschten Auslese zu sehen, tritt nicht nur etwa in der Politik der sich gegen Impfungen stellenden faschistischen brasilianischen Zentralregierung zu Tage, sondern ist auch in den moderater erscheinenden Kompromissbildungen etwa der deutschen Pandemiepolitik stets gegenwärtig. Gerade der sozialdarwinistisch-autoritären Maßgabe tritt #ZeroCovid entgegen.
Dass Ausbrüchen in Geflüchtetenunterkünften mit wochenlanger kompletter Abriegelung und solchen in Gefängnissen mit Isolationshaft von staatlicher Seite begegnet wird, ist bereits jetzt der Fall. Statt bloß die Reaktionen auf die Ausbrüche anzugreifen, greift #ZeroCovid die zuweilen tödlichen Bedingungen etwa in Flüchtlings- und Obdachlosenunterkünften oder Gefängnissen selbst an. Allein schon eine Verringerung der Zahl der Ausbrüche in solchen Unterkünften durch allgemeine Eindämmung der Pandemie wäre aus antiautoritärer Perspektive bereits ein Fortschritt gegenüber dem status quo. Sowohl die EU-Außengrenzen wie auch Grenzen innerhalb des Schengenraums waren bereits vor der Pandemie für Flüchtlinge weitgehend geschlossen. Richtig ist, dass sich mitunter durch die Pandemiebekämpfung – und die Forderungen von #ZeroCovid könnten hier zusätzliche Konsequenzen haben – noch zusätzliche praktische Hindernisse ergeben. Dies heißt jedoch nicht, dass sich jegliche Mobilitätseinschränkung gegen Flüchtlinge richten müsste. Eine Kampagne für eine solidarische Pandemiepolitik bietet zumindest die Hoffnung, dass die Bedingungen, unter denen Menschen ein Grenzübertritt erlaubt ist oder sie diesen auch unerlaubt wagen, in der Öffentlichkeit politisiert werden können, um den Kampf gegen das Grenzregime und für sichere Fluchtwege zu stärken.
In einer Hinsicht ist die Kampagne ganz klar autoritär, es geht um Autorität gegen Unternehmen, um der derzeit propagierten Aufrechterhaltung kurzfristiger Profite um jeden Preis ein Ende zu setzen. In Debatten um die Einschränkung von Freiheitsrechten wird viel zu oft keine Unterscheidung von ökonomischen, persönlichen und politischen Freiheitsrechten vollzogen – wer Unternehmen schließen will, schränkt selbstverständlich die Gewerbefreiheit ein, wer Zwangsräumungen und Kündigungen verhindern will, schränkt selbstveständlich die Vertragsfreiheit ein. Mit der Einschränkung ökonomischer Freiheitsrechte wird gerade eine Grundlage geschaffen, um mit einem überzeugenden Programm statt bloß mit vereinzeltem spontanen und potentiell regressiven Widerstand (vgl. etwa Ausschreitungen gegen Ausgangssperren) der ohnmächtig-autoritär-willkürlich-aktionistischen weiteren Einschränkung persönlicher Freiheitsrechte (etwa durch Ausgangssperren) Grenzen zu setzen.
Für politische Freiheitsrechte ist #ZeroCovid indes ohnehin keine Gefahr – im Gegenteil. Gerade weil die Kampagne die Pandemiestrategie selbst angeht, trägt sie zur Legitimierung politischer Opposition angesichts autoritär-entpolitisierender vermeintlicher Alternativlosigkeit der mit Verweisen auf „die“ Epidemiologie begründeten Maßnahmen bei. Politisierung der epidemiologischen Notwendigkeiten darf aber nicht heißen, sich darauf zu beschränken, die politischen Kontingenzen in den Berufungen auf die Epidemiologie hervorzukehren, darf nicht heißen, das Politische feinsäuberlich vom Wissenschaftlichen zu isolieren, oder gar einem Skeptizismus das Wort zu reden, der die Notwendigkeit nicht einmal kennt. Im Gegenteil gilt es gerade im Bündnis mit einer selbstkritischen Wissenschaft die sich gegen epidemiologische Einsichten stellenden irrationalen und irrationalistischen politischen Kräfte aufzudecken, ihre Dynamik zu verstehen und sich ihnen entgegenzustellen. Dies versucht #ZeroCovid, ohne sich im Umkehrschluss als bloßer Ausfluss einer unfehlbaren Wissenschaft zu verstehen.
Bezüglich der Legitimierung staatlicher Autorität: Der Plausibilität mancher anarchistischer oder esoterisch-ökologistischer Fantasie, die meint, auf jedwede „autoritär“ gesamtgesellschaftlich koordinierte Naturbeherrschung verzichten zu können, wie sie in anderen Ländern gegen das Virus gelingt, würde durch einen gewissen Erfolg von #ZeroCovid in der Tat schwerer Schaden zugefügt. #ZeroCovid legitimiert staatliche Autorität unter den gegebenen Umständen zur Bekämpfung der Pandemie. Zugleich erlaubt es diese Autorität jedoch gerade insofern zu kritisieren, wie sich der Staat aus einer verfehlten Pandemiepolitik heraus, ohnmächtig gegenüber dem Virus, in autoritären Ersatzhandlungen willkürlich gegen die Menschen wendet. Als Bewegung richtet sich #ZeroCovid jedoch nicht allein an den Staat, sondern versucht ein Bewusstsein zu erkämpfen, dass autoritäre Strukturen des Staates veränderbar sind, statt Unterordnung unter den als gegeben hingenommenen, sich insbesondere gegen die Interessen der Arbeitskräfte richtenden Staat zu befördern.
Fazit: Autoritäre Entwicklungen und Pandemiebekämpfung sind zunächst als nebeneinanderstehende Phänomene zu betrachten, die Berührungspunkte beider bedeuten nicht, dass die Pandemiebekämpfung jene autoritaristischen Tendenzen entscheidend vorantreiben würde. Gerade #ZeroCovid eröffnet sogar einige Perspektiven in die entgegengesetzte Richtung. Die größte akute, pandemiebezogene autoritäre Bedrohung besteht in der Depolitisierung der Pandemiebekämpfung, der man sich in einer Burgfriedenspolitik unterordnet, in deren Rahmen auch den bestehenden autoritären Entwicklungen nichts entgegengesetzt werden kann.