Von Julia Meta Müller
Herbert Marcuse warf 1964 in seinem populären Werk Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft die Frage auf, ob “nicht die Bedrohung durch eine atomare Katastrophe, die das Menschengeschlecht auslöschen könnte, ebensosehr dazu“ diene, “diejenigen Kräfte zu schützen, die diese Gefahr verewigen“ [1]. Damit spielte er auf die sich immer üppiger entwickelnden Produktivkräfte an, den technischen, organisatorischen sowie geistig-wissenschaftlichen Fortschritt, den zu kritisieren vor dem Hintergrund ebendieser seiner Prosperität nur absurd erscheinen konnte. Vermochte es die vorfindliche Industriegesellschaft wie keine andere, dem Individuum die “Freiheit von Mangel“ nicht nur im Ökonomischen, sondern auch im vermeintlich Sozialen zuzusichern, musste sich ihm ihre Verteidigung “als die reine Verkörperung der Vernunft“ darstellen. Und dennoch, beziehungsweise gerade deshalb, nannte Marcuse “diese Gesellschaft als Ganzes irrational.“ Denn nachdem sich mit den bereitstehenden geistigen und materiellen Ressourcen bei zunehmender Automatisierung des Produktionsapparats längst klassenübergreifend ein Leben jenseits von “Plackerei, Unsicherheit und Angst“ verwirklichen ließe, hätte das Vernünftige darin bestanden, einen solchen sozialen Wandel voranzutreiben. Dass man stattdessen einhellig dazu übergegangen war, sich bei der allabendlich über den Bildschirm flackernden Konsumwerbung gerade so weit zu entspannen, dass man am nächsten Tag wieder pünktlich zur Arbeit erschien, führte Marcuse auf das immer weiter voranschreitende Maß der Entfremdung zurück. Nicht mehr nur ihrer Arbeit, dem Produkt ihrer Arbeit und ihrer Umwelt seien die Menschen entfremdet, sondern sich als diesem entfremdeten Dasein auch so weit selbst einverleibt, dass ihnen zum Bestehenden in Opposition zu treten kaum mehr die Möglichkeit bliebe. Ihrer wirklichen Bedürfnisse entrückt, identifizierten sie sich eher mit dem im Wochenblättchen dargebotenen Handrührgerät als dem Bewusstsein über die eigene Zugerichtetheit auch nur einen Moment Zutritt zu gewähren. Dass diese sich zu einer einzigen Dimension verflachende, in Denk- und Sichtweise niederschlagende Realität auf alle Lebensbereiche übergriff und im Akademischen etwa daran sichtbar wurde, dass naturwissenschaftlich nur noch operationalistisch, sozialwissenschaftlich nur noch behavioristisch und philosophisch nur noch positivistisch der Forschung nachgegangen wurde, sah Marcuse in der Organisation der technologischen Gesellschaft selbst begründet: “[E]inmal in den grundlegenden Institutionen und Verhältnissen wirksam geworden,“ tendiere sie als ursprünglich im Sartreschen Sinne auf Freiheit, Autonomie und Verantwortung abzielender “Entwurf“ dazu, exklusiv und totalitär zu werden. Indem alle den Fortschritt bislang bereichernden “transzendierenden Elemente der Vernunft“ unter ihrer Herrschaft zur Irrationalität verkehrt würden, verschmölzen “Kultur, Politik und Wirtschaft“ zu einem ubiqitären, “das gesamte Universum von Sprache und Handeln, von geistiger und materieller Kultur“ ummodelnden System. Technologische Rationalität gehe über in politische Rationalität und Ideologie gehe vollends in Wirklichkeit auf.
So weit, so pessimistisch. Musste sich Marcuses Analyse angesichts des immer wieder zu eskalieren drohenden Kalten Kriegs so plausibel wie angemessen erweisen, drängt sich die Frage nach den destruktiv sich verewigenden Produktivkräften angesichts der nunmehr seit zwei Jahren anhaltenden COVID-19-Pandemie in ihrer Aktualität nahezu obszön auf. Dass sich SARS-CoV-2 im vorfindlichen Ausmaß nicht hätte ausbreiten müssen – weder, was seine Dauer noch die täglich und stündlich von ihm geforderten Kranken und Toten angeht –, sollte mittlerweile Konsens sein. Mit der frühzeitigen Verfolgung einer Null-Inzidenz- Strategie, immer wieder temporär ausgestalteten Shutdowns, dem längst überfälligen Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur sowie einer globalen Patentfreigabe für Impfstoffe und -technologien hätte sich das anfangs noch überschaubare Leid minimieren, wenn nicht gar eliminieren lassen. Am 1. Januar dieses Jahres hatte der Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz um 00:01 Uhr und elf Sekunden bereits so viel Geld eingenommen wie eine durchschnittliche Arbeitnehmerin in Deutschland bis zum Jahresende verdient haben wird [2]. Von Kapitaleigner*innen seines Formats eine Covid-Solidaritätsabgabe zu fordern, hätte nicht nur die Finanzierung obig angedachter Maßnahmen sichergestellt, sondern die kapitalistischen Verwertungsverhältnisse auch so weit in Zweifel gezogen, wie es seit Jahrzehnten der Fall hätte sein müssen.
Weshalb dies vonseiten der Politik unterdrückt wurde, ist evident. Stellt die Konzertierung wirtschaftlicher Interessen in Staaten wie Deutschland, Österreich und der Schweiz noch immer das effektivste Instrument korporatistischer Handlungsfähigkeit dar, konnte das Verfolgen einer “Flatten the curve“-Strategie das einzig Naheliegende sein. Unter der Annahme, auf diese Weise ökonomische Schwierigkeiten zu vermeiden, ließen sich die damit einhergehenden menschlichen Opfer in Kauf nehmen. Bei einer Mentalität, die die Leute seit jeher lieber für das Wohl des Staates in den Krieg ziehen lässt als dafür zu sorgen, für das eigene Wohl Kriege zu verhindern, lässt sich hierzu nur bitter mit den Schultern zucken – Appell an Opfermut vor Appell an die eigenen Bedürfnisse! – es scheint fast, die staatstragendste aller Devisen. Selbst die Tatsache, dass man – im Gegensatz zu etwa der ebenfalls täglich stattfindenden Tragödie der im Mittelmeer Ertrinkenden – von nun an auch selbst gefährdet sein könnte, änderte wenig an dieser Haltung. Bessergestellte konnten sich ohnehin in das Superioritätsempfinden und in ihre Privilegien retten, schon besser wegkommen und sich mittels Maßnahmen wie Homeoffice auch wirklich besser schützen zu können.
Geringfügig weniger abgefeimt hätte die Antwort auf das Pandemiegeschehen aus den Reihen der Gewerkschafter*innen ausfallen können. Mit ihrem einstmaligen Anspruch, nicht nur höhere Löhne, bessere Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitverkürzungen zu erkämpfen, sondern auch mehr Mitbestimmung und weitergehende gesellschaftliche Veränderung, hätten sie in einer richtigen Welt umgehend für umfassende Schutzvorkehrungen gesorgt. Stattdessen auch hier nur: Adjutantur der Unternehmensinteressen und Verteidigung der Konkurrenzfähigkeit. Dass sich die lax formulierten Maßnahmen zum betrieblichen Gesundheitsschutz jederzeit unterlaufen ließen und es in Deutschland bis heute zu keiner einzigen bundesweit koordinierten Aktion zur Stilllegung der nicht dringend erforderlichen Bereiche der Wirtschaft kam, bestätigt Marcuses These der Einebnung von Gegebenem und Möglichem aufs Defätistischste. Wenn selbst diejenigen, deren elementarste Aufgabe es ist, sich für die körperliche Unversehrtheit ihrer Mitglieder einzusetzen, der Annahme erliegen, so lange das Kapital zirkuliere, gehe es ihnen gut, muss “das Ausmaß, in dem die unterworfene Bevölkerung an den [systemerhaltenden] Bedürfnissen und Befriedigungen teil hat,“ immens sein.
In der politischen Linken zeigt sich das ausbleibende Aufbegehren unterdessen insgesamt vielfältig. Während es in der Partei DIE LINKE nicht nur kontinuierlich versäumt wird, mit den radikaleren Positionen der Klimabewegung zusammenzugehen, sondern während der letzten vier Corona-Wellen auch mehr den Regierungsmaßnahmen “hinterhergeeiert“ wurde als den 49 Prozent der Bevölkerung, die effizientere Schutzmaßnahmen forderten, eine Stimme zu geben, scheint man sich in außerparlamentarischen linken Gruppen mitunter zu fein, an den Staat zu appellieren [3]. Die Möglichkeit, in dieser akuten Situation eine politisch und materiell koordinierte Pandemiebekämpfung einzufordern und zugleich eine radikale Kritik am Staat weiter zu betreiben, wird kaum ins Auge gefasst. Obwohl der Staat es ist, der die Menschen “in autoritärer Manierer auf einen falschen Normalzustand verpflichte[t]“, und obwohl der Staat es ist, der sich permanent weigert, “das nötige Kleingeld zum Ausbau von Gesundheitsämtern und PCR-Testkapazitäten rauszurücken“, arbeitet man sich vorwiegend an Symptomen wie Querdenker*innen und aufmarschierenden Nazis ab [4]. Dagegen werden emanzipatorische, für einen konsequenten solidarischen Umgang mit der Pandemie eintretenden Initiativen wie ZeroCovid erst gar nicht gehört oder auch von links als unrealistisch abgetan – einmal mehr ein Beleg für Marcuses These der Verschmelzung von Wirklichkeit und Möglichkeit.
Aus dem akademischen Sektor wiederum ließen sich jüngst Stimmen vernehmen, man lasse über Distanz oder Hybridität in der Lehre von nun an per Studierendenumfrage entscheiden. Mit der Begründung, die Student*innen in ihren Wünschen und Bedürfnissen ernstnehmen und als Subjekte nicht entmündigen zu wollen, sah man sich bemüßigt, die Verantwortung der ohnehin schon individuell zu treffenden Abwägungen noch weiter nach unten abzuschieben. In einer Position, in der man ganz genau um die exkludierenden Mechanismen der Gesellschaft weiß, kein Exempel zu statuieren, das das Risiko aller – auch derjenigen, deren Interesse sich nicht in der Majorität abbilden – verlässlich minimiert, ist doppelt tragisch. Zum einen kommt man damit dem sozialdarwinistischen, auf Durchseuchung stehenden Kurs der Regierenden entgegen, zum anderen schreibt man damit die Verfestigung der innerinstitutionellen Strukturen nahtlos fort. Die staatliche Politik hat sich bewusst dafür entschieden, die besonders vulnerablen Gruppen und Ungeimpfte einer tödlichen Gefahr auszusetzen und alle dem erhöhten Risiko, dauerhaft an Long-Covid zu erkranken. Wird dieser moralische Verrohungszustand als Naturgesetz behandelt, wird die politische Vorgabe ideologisch verfestigt – auf Kosten von Leben und Wohlergehen.
Bei all diesen betrüblich stimmenden Einblicken darf natürlich nicht vergessen werden, dass es trotz allem auch positive Veränderungen gibt. Es gibt globale soziale Bewegungen, die sich miteinander vernetzen und dem von Mark Fisher für alternativlos befundenen Kapitalistischen Realismus kontinuierlich etwas entgegensetzen. Es gibt Zusammenschlüsse von Künstler*innen, Naturwissenschaftler*innen und Philosoph*innen, die zu einem “Vorher, das vorher falsch war“, nicht zurückwollen [5]. Menschen, die um die durch Corona noch weiter auseinanderklaffende Schere der Ungleichheit wissen, und ihre Popularität zunehmend dafür nutzen, sie auf Schritt und Tritt zu skandalisieren. Es gibt Fridays For Future und eine queerfeministische Bewegung, die sich seit 2016 dem Ziel verschrieben hat, den Zusammenhang zwischen sexistischer Gewalt und der im Privaten unsichtbar gemachten Care-Arbeit radikal aufzuzeigen. Die über fünf Millionen Demonstrierenden, die während des Frauentags 2018 unter “Wenn wir streiken, steht die Welt still“ – Rufen in Spanien ihre Arbeit niederlegten und damit die in heutigen Lockdown-Zeiten als systemrelevant geltenden Bereiche tatsächlich fast zum Erliegen brachten, scheinen kaum gewillt, von ihrem Kurs noch einmal abzurücken. Doch so lange diese Kämpfe nicht eine noch breitere Mehrheit erreichen und sich so weit in die Institutionen und Betriebe tragen, dass sie nachhaltige, radikale Veränderungen bewirken, muss man sich noch immer mit Marcuses Einsicht konfrontieren: “Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und das Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.“
[1] Herbert Marcuse: “Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“.
[2] Bini Adamczak: https://twitter.com/bini_adamczak/status/1477052195937914887 (letzter Zugriff am 8.2.2022).
[3] Bini Adamczak: https://zeitschrift-luxemburg.de/artikel/mehr-provokation-wagen/ (letzter Zugriff am 8.2.2022).
[4] Jeja Klein: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160865.corona-wer-pumpt-den-coronakeller-aus.html (letzter Zugriff am 8.2.2022).
[5] Carolin Wiedemann: https://www.tagesspiegel.de/kultur/fridays-for-future-metoo-und- black-lives-matter-eine-neue-generation-stellt-die-systemfrage/25936510.html (letzter Zugriff am 8.2.2022).