Der von der Ampel-Regierung beschlossene Wegfall der meisten Schutzmaßnahmen trotz dramatisch hoher Inzidenzen bedeutet, dass alle diejenigen, die besonders auf Schutz angewiesen sind, im Stich gelassen werden: Es ist das Einstimmen in eine eugenische, sozialdarwinistische Grundhaltung, die jetzt das Problem, sich vor Covid zu schützen, den Alten, den Schwachen und ihren Nächsten überlässt. Wenn z.B. jeder Einkauf von Lebensmitteln im Supermarkt aufgrund der Aufhebung der Maskenpflicht ein hohes Infektionsrisiko mit sich bringt, bedeutet dies für nicht wenige Menschen eine drastische Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit im Alltag und gerade keinen Zugewinn. Noch dazu ist es ein Trugschluss anzunehmen, dass die Pandemie bald vorbei wäre, ließe man sie einfach “durchlaufen”. Entgegen aller Hoffnung auf ein Ende der Pandemie setzt sich das Mutationsgeschehen fort, die Inzidenzen erreichen neue Rekordwerte. Keine Expert:in geht mehr davon aus, dass Herdenimmunität dem Zirkulieren ein Ende setzen wird.
Wir wenden uns entschieden gegen den Kurs der Ampel-Regierung, der auf ein neoliberales “survival of the fittest” hinausläuft. Gesellschaftliche Maßnahmen dagegen bedeuteten Solidarität gegenüber Menschen, die ein hohes Risiko einer Infektion oder eines schweren Verlaufs bei Infektion haben. Bei individuellen Maßnahmen ist jeder auf sich gestellt, mit der Folge, dass das Virus vor allem jenen schadet, die nicht die Ressourcen haben, sich selbst zu schützen. Solidarisch wäre es, wenigstens die Gefahrensituationen zu minimieren, der Bevölkerung beim Selbstschutz helfend zur Seite zu stehen und Geld für entsprechende Maßnahmen bereitzustellen bzw. Infrastruktur, um sie umzusetzen. So fehlen in den meisten Schulen bis heute angemessene Luftfilteranlagen. Die Mortalität ließe sich stark senken, wenn bekannt wäre, dass Ärzt:innen angehalten sind, ihre Risikopatient:innen mit Mulnopiravir oder Paxlovid zu behandeln – diese Medikamente müssen aber so bald wie möglich nach der Infektion verschrieben werden.
Statt diese Information allgemein verfügbar zu machen, stimmt uns die Regierung auf vermeintlich unvermeidbare Verluste von Menschenleben ein. Statt Impfzentren als ständiges Angebot weiter zu betreiben, kapituliert die Regierung vor der Impfgegnerbewegung. Statt Krankmeldungen zu vereinfachen, das Recht auf Homeoffice zu garantieren, und Anträge auf Leistungen nach dem SGB zu vereinfachen, stiehlt sich die Politik aus der Verantwortung. Statt Schnelltests und PCR-Tests, FFP2-Masken flächendeckend und für alle jederzeit kostenlos zur Verfügung zu stellen, wird die Pandemie kurzerhand für beendet erklärt. Statt kleinen Betrieben Hilfe zu garantieren, sowohl für Zeiten maßnahmenbedingter Schließungen als auch für Zeiten der inzidenzbedingt niedrigen Nachfrage, läßt man sie pleite gehen. Statt Förder- und Entlastungsmaßnahmen für Familien, zum Ausgleich der pandemiebedingten Mehrfachbelastungen, wird von uns allen verlangt, diese als Teil der neuen Normalität zu akzeptieren. Statt LongCovid-Erkrankung als Berufsunfall anzuerkennen, mit Aufklärung unter Ärzt:innen die Diagnose zu erleichtern, Rehabilitationszentren zu schaffen, überlässt man auch hier Betroffene sich selbst. Jetzt bereits ist Long Covid ein wesentlicher Grund für Langzeiterkrankungen in England 2021 (Quelle: Financial Times, “Long Covid now major cause of long-term job absence, say quarter of UK employers”, 8.2.2022). Völlig unklar ist, wie viele Menschen davon noch betroffen sein werden. Auch Menschen, die im medizinisch-pflegerischen Sektor arbeiten, sind ausgebrannt. Weiterhin bedarf es sowohl mehr Personal, höherer Löhne als auch besserer Arbeitsbedingungen. Stattdessen werden weitere Privatisierungen auch die Ressourcen noch mehr verknappen.
Während in der ersten Phase der Pandemie Schweden das Vorbild vermeintlich alternativer Pandemiebekämpfungsstrategien war, bis schließlich die harte Realität der Zahlen diesen Mythos zerschlug, ist dies aktuell Dänemark. Dort wurden bereits Anfang Februar 2022 so gut wie alle allgemeinen Schutzmaßnahmen aufgehoben. Nachdem die Inzidenz seit Beginn des Jahres dort sehr stark anstieg, sinkt sie seit Mitte Februar, wobei jedoch auch immer weniger getestet wird. Die Zahl der wöchentlichen Todesfälle ist dort im März stark angestiegen. Dänemark zeigt die Gefahren eines “Freedom Days”: Steigende Fallzahlen und kurz darauf ansteigende Krankenhauseinweisungen und Todesfälle. Die Fallsterblichkeit, also die Zahl der Todesfälle pro erkannter Infektion, lag lange unter derjenigen Deutschlands – das ist bei einer raschen Verbreitung des Virus, die typischerweise zunächst unter jüngeren und gesünderen Menschen stattfindet, zu erwarten und war in diesen Phasen auch in Deutschland zu beobachten. Inzwischen liegt die Fallsterblichkeit auf oder über dem Niveau Deutschlands. Dänemarks Behörden argumentieren, dass die Daten zur Fallsterblichkeit nicht aussagekräftig seien, da 30-40% der Menschen “mit” statt “an” Covid-19 stürben. Richtig daran ist, dass – insbesondere bei hoher Impfquote – vor allem Vorerkrankte sterben. Bei diesen löst das Virus nicht unbedingt sofort die Covid-19 typischen Symptome aus, stattdessen verschlechtert sich der Allgemeinzustand der Patient:innen. Obwohl das Virus diese Verschlimmerung ausgelöst hat, erscheint es dann oft als eine Zweitdiagnose und wird – in der Lesart der dänischen Behörden – “zufällig” entdeckt. Das Beispiel Dänemark zeigt daher, dass Covid-19 weiterhin eine sehr gefährliche Erkrankung für Ältere und Vorerkrankte ist – die Impfung kann das Risiko nur verringern, nicht beseitigen.
Die Pandemie ist nicht vorbei. Solidarische Schutzmaßnahmen, die sich an den Bedürfnissen, Fähigkeiten und Vorschlägen von besonders verletzlichen Menschen, Armen und Prekarisierten orientieren, bleiben aus emanzipatorischer Perspektive unabdingbar! Aus einer Perspektive, die sich an der Minderung von unnötigem Leid und der Verhinderung von vermeidbaren Todesfällen orientiert, wäre auch heute noch das beste Mittel eine Eindämmungsstrategie, mindestens müsste zu einer Niedriginzidenzstrategie zurückgekehrt werden. Diese müsste von einer weltweiten Impfkampagne begleiten sein, damit Variantenbildung und Impfstoffentwicklung miteinander Schritt halten können. Alle anderen Wege bedeuten weiterhin viele Tote und noch mehr Menschen mit Langzeitfolgen der Erkrankung. Aufgrund der Pandemie ist der Anstieg der Todesfälle in Deutschland laut Statistischem Bundesamt von 2019 bis 2021 doppelt bis viermal so hoch gewesen als aufgrund der immer älteren Bevölkerung erwartbar gewesen wäre.
Der Beschluss der Ampelregierung vom 18.3.2022 zur Aufhebung der meisten Schutzmaßnahmen ist dabei nur der Schlussstein eines zweijährigen Versagens. Es wurden keine Vorkehrungen für die je kommende nächste Welle angestrengt, sondern vielmehr immer aufs Neue Erstaunen und Überraschung ausgestellt. Die faktische, derzeit erfolgende Durchseuchung ist aber eben keine alternative Pandemiebekämpfungsstrategie, sondern genau das Fehlen einer solchen. Der Schutz der Risikogruppen wurde allmählich immer weniger thematisiert, dafür wurde immer mehr Denjenigen Raum gegeben, die einen “Freedom Day” fordern. Der Diskurs hat sich nun vollends verschoben, weg von einer ‘Flatten the curve’-Strategie und Kerzen für Corona-Tote, hin zu einem radikalen Aufgeben fast aller Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und einem Feiern der ‚Freiheit‘ – der Freiheit, sich und andere anzustecken, statt einer Freiheit, die solidarisch auf ein von allen und für alle gestaltetes Zusammenleben abzielt.
Die ZeroCovid-Kampagne, die im Januar 2021 vorgestellt wurde, setzt sich weiterhin für eine solidarisch und global ausgerichtete Gesundheitspolitik ein, für eine Niedriginzidenzstrategie und den uneingeschränkten Zugang zu den nötigen Ressourcen für die Länder des globalen Südens durch Patentfreigabe und Technologietransfer, für einen grundlegenden Ausbau des Pflege- und Gesundheitsbereichs. Wir stehen auf der Seite derjenigen, die vorerkrankt oder immunsuprimiert sind, die unter LongCovid leiden, auf der Seite von denjenigen, die Menschen an Covid verloren haben. Wir werden nicht aufhören, daran zu erinnern, dass dieses Leid und diese Tode nicht notwendig, sondern vermeidbar waren und sind.